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Von früher Jugend an war ich fasziniert von dieser Reihe, die so sorgfältig leinengebunden, so handlich formatiert, mit Lesebändchen und mit einem so … architektonischen Buchrücken ausgestattet war.

In einer freien Stunde bin ich dem kürzlich einmal nachgegangen.

Verwunderung: Anscheinend gibt es zu diesem Riesenprojekt der literarischen Kanonbildung noch nicht einmal eine Dissertation. Aber vielleicht irre ich mich. Sogar ein entsprechender Wikipedia-Eintrag fehlt (das könnte ich ja noch erledigen).

Immerhin findet man die Information, dass mehr als 7 Millionen Exemplare dieser Reihe produziert worden sind, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Aufbau-Verlag#1961–1970.

Die Autor_innen bis 1990:
Anzengruber, von Arnim, Börne, Bräker, Brentano, Büchner, Bürger, von Chamisso, von Droste-Hülshoff, von Ebner-Eschenbach, von Eichendorff, Fontane, Forster, Freiligrath, Goethe, Gotthelf, Grabbe, Grillparzer, Grimmelshausen, Gryphius, Günther, Hauff, Hebbel, Hebel, Heine, Herder, Hoffmann, Hölderlin, Hutten, Keller, Kleist, Klinger, Klopstock, Lenau, Lenz, Lessing, Lichtenberg, Luther, Meyer, Mörike, Moritz, Müntzer, Nestroy, Novalis, Paul, Raabe, Raimund, Reuter, Reuter, Sachs, Schiller, Schlegel, Schubart, Seume, Stifter, Storm, Tieck, Voß, Weerth, Wieland, Winckelmann.

Im Ganzen 67, meist mehrbändige Werkausgaben (155 Bände), inklusive 4 Briefausgaben, 62 Autor_innen von 1488 bis 1916, 2 thematische Sammlungen („Deutsche Schwänke“, „Deutsche Volksbücher“).

Darunter 7 Österreicher_innen, 5 Schweizer_innen, 3 Frauen.

Jede Werkausgabe ausführlich eingeleitet, mit Anmerkungen versehen, detailliertem Inhaltsverzeichnis (habe gerade Hans Sachs‘ Gedichte vor mir liegen).

Eine gewaltige Leistung vieler Literaturwissenschaftler_innen, die zwischen 1956 und 1990 erbracht worden ist. Bemerkenswert erscheint mir auch, welch grosse Ressourcen die Regierung der DDR für dieses Projekt dauerhaft aufgewendet hat.

1964 kam das Projekt initial mit der Büchner-Ausgabe zum Berliner Aufbau-Verlag (bis 2002), zuvor war es in einer Arbeitsgemeinschaft Weimarer Verlage betrieben worden.
Die Werkausgabe Gottfried August Bürger machte 1956 den Anfang (http://d-nb.info/450687627).
Einiges erschien nach 1990 unter Lizenz auch bei der WBG Darmstadt.
Seit 2002 oder auch schon parallel in den 1990er Jahren erschienen Nachauflagen und Neuausgaben vom Deutschen Klassiker-Verlag (Berlin).

Das kleine Wunder dieser grossen Reihe besteht darin, dass es seit 1956 alle folgenden politisch-ideologische Umschwünge und wirtschaftlichen Krisen schadensfrei überstanden hat: 1965, 1972, 1976.

Eine vorläufige historische Einordnung könnte so aussehen: Der Start der Reihe fällt in die Phase des sogenannten Tauwetters. Ein ganze Reihe gesamtdeutscher Initiativen wurden mit Billigung der DDR-Regierung damals gestartet, bürgerliche Kultur in das Selbstbild der SED-Dikatur integriert. Begrenzt war diese Aufnahme da, wo unmittelbar politisch-ideologische Anliegen berührt wurden (deshalb wird man z.B. Nietzsche vermissen). Begrenzt war die Aufnahme aber generell durch das offizielle Geschichtsbild der SED-Führung, wonach es eine fortschrittliche und eine dekadente Phase der bürgerlichen Kultur zu unterscheiden gelte. Als Faustregel kann man hier annehmen: Sobald es bekennende marxistische Belletristik gab, war jede „bürgerliche“ Literatur, die diesen Schritt nicht vollzog, per se dekadent.

Es gibt aber darin auch einen positiven Gedanken. (Diesen kann man gleichsam auch besichtigen, wenn man das ebenfalls 1956 neueröffnete Zwickauer Schumann-Museum besucht.)
Die DDR war in vielfacher Weise auch ein Versuch, Deutschland neu zu erfinden – aus Sicht der Akteure (im Spektrum von Walter Ulbricht bis Hans Mayer) gewiss auf sehr, sehr unterschiedliche Weise. Für viele dezidiert antifaschistisch orientierte Intellektuelle in Ost und West war die DDR, insbesondere der Tauwetterzeit, so etwas wie ein historisch zweiter Anlauf der deutschen Geschichte. Als ob man den „Sonderweg“ durch eine Rückkehr an die kritische Abzweigung revidieren könnte. Deshalb ging die Besinnung auf die „guten“ bürgerlichen Traditionen auch mit einer Verantwortungsleugnung für die NS-Herrschaft und ihre Verbrechen einher (eine Verleugnung allerdings, die auf westdeutscher Seite unappetitlich gedoppelt wurde).

Die Bibliothek deutscher Klassiker (BdK) steht als verlegerisches und editorisches Projekt exemplarisch für diese naive, einvernehmende Form einer positiven kulturellen Traditionsanbindung, die sehr dankbar von vielen Menschen in der DDR aufgegriffen worden ist. Es verband sie über die Katastrophen ihrer 20.-Jhd.-Biographien hinweg mit etwas Schönem und Gutem im geteilten Deutschsein.

War die BdK systemstabilisierend als Teil eines „Unrechtsstaates“? Diese Frage geht für mich an diesen Büchern und an ihren Autor_innen und Editor_innen vorbei. Sie ist im Kern a-historisch.

Mit der Roten-Armee-Kaserne am Stadtrand, der MfS-Zentrale um die Ecke und der Mauer im Süden und Westen musste das System, zumal in den 1960ern und 70ern, nicht noch eigens durch einen Karl Philipp Moritz stabilisiert werden. Nötig war es in dieser Situation vielmehr, sich individuell und unter Gleichgesinnten zu bewahren, und wenn es auch nur in der Nische einer Anton-Reiser-Lektüre war. Wenn das auch noch vom Staat finanziert wurde: Gut.


Dazu gab es auf Facebook, wo der Text ursprünglich (eingeschränkt) publiziert wurde, eine ausführlichere Diskussion, unter anderem von Gustav Seibt die folgende wertvolle Ergänzung (3.1.18, 17.06 Uhr)

„Ich schätze die Reihe auch und war schon als Schüler dankbar für manche Ausgabe. Allerdings muss man schon ein paar Einschränkungen machen: 1) die Textgestalt ist arg „normalisiert“, sogar übers damalige West-Reclam-Niveau hinaus – ältere Sprachformen weitestgehend eliminiert. 2) die Beschränkung auf sehr schmale Auswahlen bot natürlich Gelegenheit, mehr oder weniger zart frisierte Klassiker-Bilder herzustellen. Die von dem SED-Hardliner Holtzhauer verantwortete Winckelmann-Ausgabe verzichtet vollständig auf Briefe – die in der gleich schmalen Auswahl von Walter Rehm fast ein Drittel ausmachen. Damit aber ist der Männer liebende Winckelmann, den Goethe so hoch schätzte, verschwunden, zugunsten eines Handwerkersohns, der sich gegen den Adel durchsetzt – ein ziemlich schiefes Bild des Verehrers schöner Junkersöhne, denen er einige er erhabensten Seiten deutscher Sprache widmete. Oder: Bei Börne ist die Goethe-Kritik völlig getilgt (so die Rezension des „Briefwechsels mit einem Kinde“, einer der wichtigsten Texte Börnes). Also, man muss schon ins Detail der einzelnen Ausgaben gehen (warum bei Hebel keinerlei Urfassungen der Kalendergeschichten?). Wer diese vielen kleinen Bände durchgelesen hätte, hätte eine großartige Basisbelesenheit, aber noch kein wissenschaftliches Fundament. Da bieten die erneuerten Reclam-Ausgaben der letzten 20 Jahre erheblich mehr. Z.B. – ceterum censeo – bei Raabe.“

Ich darf auch meine Antworten zur Kenntnis bringen
– (3.1.18, 17.10 Uhr):

Zweifellos. Danke für die Ergänzung!

– (3.1.18, 17.24 Uhr):

„Die BdK ist eine Werk- als Volksausgabe, sie genügt heutigen Anforderungen kritischer Editionsarbeit nur selten. Sie kam unter den politischen und ideologischen Umständen zustande, die ich oben skizziert habe. Die editorischen Mängel resultieren aus diesen Umständen.
Mein Blick ist der eines Historikers, der dieses Projekt verstehen will. Eine historische Dissertation wäre es doch sicher wert.“

Images: Alle Recht vorbehalten (C) der Autor
(ursprünglich nicht-öffentlich auf Facebook am 3. Januar 2018)

4 Gedanken zu “BdK: Bibliothek deutscher Klassiker

  1. Zu diesem Thema sollte man den folgenden instruktiven Aufsatz nicht übersehen:
    Marcus Gärtner: „Bibliothek deutscher Klassiker“. Die Klassiker im Leseland. In: Lothar Ehrlich/Gunter Mai unter Mitwirkung von Ingeborg Cleve (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Honecker. Köln u.a.: Böhlau 2001, S. 194-218.

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  2. Hallo, die ersichtlichen Einträge liegen lange zurück. Folgendes möchte ich anmerken. Die BDK umfasst meines Wissens nicht, wie hier im Text beschrieben steht, 4 Briefbände, sondern 7 Briefbände. Auch der Verweis auf drei Autorinnen ist meines Erachtens nicht richtig. Es sind zwei Autorinnen, die Aufnahme in die BDK gefunden haben (Annette Droste-Hülshoff und Marie Ebner-Eschenbach). Wer sollte die dritte Frau sein? Bettina von Arnim taucht trotz der drei erschienenen Bände (Arnim, Brentano/Arnim und Brentano) nicht auf. In der ersten 10 Bändigen Goethe Ausgabe (Hrsg. Reinhard Buchwald) war ebenso noch ein Ergänzungsband enthalten. Dieser Band wurde von Eberhard Buchwald ausgewählt und mit einem Nachwort versehen. Dieser Band nähert sich Goethe ausschließlich mit naturwissenschaftlichen Texten.
    MfG M. König

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