Ein gewaltiger Ohrensessel,
so beginnt jetzt mal die Geschichte, viele Male von Polsterern neu bespannt. Aus niemals benannten Zeiten stammend, weitergereicht, keine Dutzendware. Zu der Zeit, die mir gerade vor den Augen steht, Oktober 1980, war er ockerfarben bezogen mit eingestempelten großen Blumenumrissen, Orchideenformen. Erstaunlicherweise können meine Fingerflächen jetzt in diesem Moment das Tastgefühl der so oft neu lackierten schwarzbraunen Armlehnen mit ihren nur mangelhaft kaschierten Macken und die Konturen des Überzugsstoffes neu erzeugen, als ob ich damals diesen körpervollen gewaltigen Sessel dauernd gestreichelt und umarmt hätte. Die Rezeptorneuronen meiner Nase erzeugen zu gleicher Zeit die besondere Strenge des Duftes aus dem Inneren seiner Polster neu, magisch, oder spielt mir hier mein Gehirn einen Streich? Gewiss, und einen dankenswerten.
Er, der Riesensessel, stand in der balkonierten Anderthalb-Zimmer-Neubauwohnung auf dem Berg mit Blick über das weite Tal auf die Friedhofskirche bei den Gräbern ihrer Eltern, der böhmischen Einwanderer ins Königreich. Solange die Bäume nicht hochgeschossen waren, konnte sie von dort immer hinüberblicken. Neben dem Sessel, dem kleinen Jungen schmerzten Oberarme und Achseln an den harten lackierten Armlehnen, wenn er hinunterlangte, stand der Zeitungsständer aus wenigen Metallstreben, der die letzten Monate der zu Hause nicht gehaltenen intellektuellen Berliner Wochenzeitschrift enthielt. Dieser Zeitungsständer verlangte besondere Sorgfalt beim Herausziehen und Zurückstecken der grauweissen Papierbündel, es musste wieder ordentlich aussehen, er war das Geheimnis hinter dem Sessel. Er versuchte diese Zeitschrift zu lesen, sobald er nur begonnen hatte, lesen zu lernen.
What are you watching?
Hello?
Are you feeling okay?
1980 war er schon groß genug, um keine Mühe mehr zu haben, dieses Ungetüm von Möbel zu besteigen. Der 10-jährige erinnerte sich daran mit einer Mischung auf Erleichterung und schon vorweggenommener Altersbetrübnis, leichtem Schaudern, dass es vor gar nicht langer Zeit noch ein sportliches Unterfangen gewesen war, dieses Besteigen, diese steile Wand aufragenden harten Polsters, mit der vernähten Kordel am Rand, die immerhin etwas Halt bot, um dann endlich dort zu thronen, wo sonst die Ömi ihre Kreuzworträtsel aus der Wochenpost bearbeitete, mit großem Ernst, unversiegbarer Leidenschaft bis zu ihrem Ende. Die Wochenpost starb ein Jahr nach ihr. Oder sie reparierte ihre Nylonstrümpfe, oder strickte Schals, Mützen, Handschuhe für die Enkelkinder. Oder sie sah fern in diesem immerhin schon Farb-Röhrengerät. Also, richtig fern, wenn auch immer wieder hadernd mit der PAL/SECAM-Übertragung; bis nach Amerika konnte sie immerhin sehen.
Day after day, love turns grey
Like the skin of a dying man
Lang-gemächliches Dahindieseln über weite Strecken durch die Nacht, allein, er mag es nach 2-3 Stunden. Alles, was durch den Kopf gegangen sein sollte, ist durch den Kopf gegangen. Nun öffnen sich die Lichtungen des Gedächtnisses, auf denen sich bei guten Sternen die Gopis einfinden, dem Flötenspiel ergeben, um sich im tänzelnden Reigen Gottes Nähe zu erfreuen, ausgelöst von der täglichen Fron, für diesen Moment. Die Gopis kehren in die Träume aller jungen Inder und Inderinnen ein und in meine auf den nächtlichen Straßen. Sie sind die Bevölkerung aller geheimen Sehnsüchte. Alles schaut auf den Göttlichen, der doch nur in der Bhakti zum Bild findet. Unklar, warum ihm das nach einer gewissen Zeit bei diesen Autofahrten durch den Kopf geht. Aber es geht.
And night after night, we pretend it′s all right
But I have grown older
And you have grown colder
And nothing is very much fun anymore
Von Ömis Polsterthron aus sah er zum ersten Mal diesen Kinderchor mit englischer Rockband. In Kinderchören sang er selber wie eigentlich alle immer wieder. Eine irritierende Zusammenstellung dort im Westfernsehen, dachte er sich. Wovon sich Ömi nicht abbringen ließ, dieses Westfernsehen, das war immer klar, und was bei Familienbesuchen abends doch einträchtig konsumiert wurde. Das war aber hier jetzt eine andere Situation, er war allein, es war Vorabendprogramm, es lief nebenbei, er hatte etwas gelesen, auf das Abendbrot gewartet, irgendeine langweilige Vorabendshow, wie hieß sie nur?, und dann plötzlich dieser Auftritt, es blieb ihm buchstäblich der Mund offen stehen, so etwas hatte er noch nicht gehört. Das Buch sank auf seinen Schoß.
But I can feel one of my turns coming on
I feel, cold as a razor blade
Tight as a tourniquet
Dry as a funeral drum
Ich weiss nicht, wie das kommt, diesmal kam ich von Süden. Kaum war ich hinter Děčín über die Grenze und in Sachsen, wusste ich sofort und völlig bestimmt, was ich hören wollte. Der Grenzübertritt ins Beitrittsland löst bei mir musikalische Bedürfnisse aus. Immer wieder. So wie er früher, wenn er die manchen Male die endlosen Wege an die Grenze fuhr, immer nur Neil Young von Magnettonkassetten auf seinem LCS 1010 hören konnte, nichts anderes. Mühsam erradiote Playlists avant la lettre. Pink Floyd, „The Wall“, musste es diesmal sein, genau das, die Fahrt reichte ziemlich genau aus dafür bis in den diagonal entlegenen sächsischen Winkel. Komplett hatte er das seit Jahrzehnten nicht gehört. Nun aber. Die Bässe ließen sogleich die Innenabdeckung der Tür, auf der sein linker Arm lag, vibrieren und auch das Lenkrad. Musik muss gespürt werden. Die Texte kann er fast alle noch mitsingen. Er ist gerührt, sieht ja niemand.
Run to the bedroom
In the suitcase on the left you’ll find my favourite axe
Don′t look so frightened, this is just a passing phase
One of my bad days
Man macht sich überhaupt keinen zureichenden Begriff davon, was dieses Stück für den jüngeren Teil der „distanzierten Generation“ (Bernd Lindner) bedeutet hat. Was dieses in ihm eingewobene Grundgefühl einer wütenden Ermüdung, einer Empörung über ein System von Täuschung und Missbrauch bis heute an Bestätigungsreflexen auslöst. Individualistisches Misstrauen. Bemerkenswert nur, wie eine Haltung grundsätzlicher Autoritäts- und Staatsdistanz, die dieses Musikstück durchzieht und in ihm begründet wird, und weiterhin misstrauischen Hörens von Durchsagen von andernorts, sturer Privatbehaglichkeit, dem Bestehen auf dem Eigensein diesseits und jenseits von Marienborn für Blicke von außen zum Heldenmut werden konnte und lange blieb und mittlerweile und zunehmend nur noch für Häme und Unverständnis der anderen, der so Selbstgewissen sorgt. Die Menschen bleiben sich in ihren prägsamen, vielfach bestätigten Lebensmustern treu, ihrem kleinkollektiven Individualismus, erzogenermaßen treue Hunde, wie es sein soll, die beweglichen Verhältnisse um sie herum lassen sie aber über die Jahre mal in dieser, mal in jener Farbe erscheinen.
Would you like to watch TV?
Or get between the sheets?
Or contemplate the silent freeway?
Would you like something to eat?
Es dauerte 5-6 Jahre bis er das Stück einmal ganz hören konnte. Sogar unter den voluminösen Stereokopfhörern DK 75 des VEB Rundfunktechnik Leipzig. Der neue Freund seiner älteren Schwester hatte deren Wohnung mit russischer und französischer Literatur und mit Schallplatten geflutet und auch die DK 75 mitgebracht. Viele, mehr als einhundert Westschallplatten vom Schwarzmarkt. Ein Vermögen für Musik. Er war 10 Jahre älter, arbeitete als Blitzschutzleger mit Abitur, begabt bis unter die Haarspitzen, aber in der DDR fand man für ihn und er für sich keine angemessene Verwendung. Wobei, er war’s zufrieden, arbeitete tagaus tagein waghalsig unter Gottes freiem Himmel, war pünktlich zu Hause und war wieder frei im Kosmos seiner Privatheit. Kannte „Karriere“ nur aus dem Kino, wenn amerikanische Filme liefen.
Hier hörte er die Doppellangspielplatte am Stück, allein, abends, er hütete seine Nichte, es war auch ein November an der Peripherie des Chemiedreiecks, auch kalt, feucht und schwefelneblig. Unvergesslich. Die noch jugendlich kleinen Ohren erst warm, dann heiß unter den riesigen Muscheln der Kopfhörer. Das rasende Herz. Dieses Gefühl, womit er nirgends hinkonnte. Distanz, ja, als Behauptung der Person unter den Zumutungen von Welt.
Would you like to learn to fly? Would you?
Would you like to see me try?
Oh, no
Es ist schon spät geworden, die Ankunft zog sich hin, nicht ganz unerwünscht, wahrscheinlich muss ich das hier nach dem Schlafen runternehmen. Jetzt sitze ich keine 500 Meter von dem Ort entfernt, an dem ich auf dieser Couch lag mit ihrem merkwürdigen Mininoppenbezug, was sich aber angenehm belag, mit den DK 75 auf den Ohren, dort, wo damals seine Schwester wohnte vor 36 Jahren. Vielleicht kann ich jetzt schlafen. Auf dem Platz, an dem früher sein Kinderbett stand.
Would you like to call the cops?
Do you think it’s time I stopped?
Why are you running away?
Als seine Ömi 1995 starb, war er gerade aus Indien zurückkehrt. Er war nicht dort, wo er hätte sein sollen. Der Sessel wurde entsorgt, auf den Müll gebracht, das Stöhnen der Transporteure ist nicht überliefert, kein Platz dafür in seinem WG-Zimmer.
P.S.: Es war kein Ohrensessel! – wurde mir heute plötzlich klar. Riesig, thronartig, aber keine Ohren. Wie konnte ein so gewaltiger Sessel keine Ohren haben?
Die Mutter konnte sich am Telefon nicht an die Herkunft des Sessels erinnern, der Vater schon: Er hat ihn 1957 bei einem Polsterer in dem kleinen Dort Kyhna anfertigen lassen. Er kommt vom Kuh- und Schweinedorf, die besondere Strenge des Duftes seiner Polster. Ich verstehe es beim Schreiben. Dieser Sessel (und ein zweiter und ein entsprechendes Sofa) war dörfliche Handarbeit für meines Vaters erste Wohnungseinrichtung, seitdem er 1943 mit seinen Eltern aus dem Bombenhagel über Berlin fliehen musste. Es konnte alles nicht groß, bergend, schwer und stabil genug sein. Er brachte diese Möbel in die Ehe mit meiner Mutter mit. Bald mussten sie wieder heraus, und es wurde etwas Modernes gekauft. Das heißt, als ganz kleiner Bub muss seine erste Begegnung mit diesem Thronsessel noch bei seinen Eltern erfolgt sein. Seine Großmutter bezog nur schmale Rente, sie war sehr dankbar, als mein Vater den Sessel wieder zu einem Polsterer zur Aufarbeitung bringen ließ und von dort nach Zwickau. In meiner Erinnerung ist er dort schon immer gewesen, seitdem ich denken kann. Wir können aber rückwärts nicht weit denken.

Ein Gedanke zu “Der Ohrensessel, der keiner war”