1986. Wenn es finster wurde, die müden Strassenlaternen funzelten und die Feuchtigkeit des Tages zu Eis kristallisierte, sodass die Schritte auf den Betongussfeldern, die etwas zwischen Strassen und Weg bildeten, aber auch auf den alten Reichsautobahnen in Bretterrahmen bis zum Aushärten gegossen wurden, gleichsam als performativ erfahrbare Sprunginnovation (hätte man diesen Begriff damals doch nur schon gekannt, welche Kantinenlachsalven unter den witzsüchtigen Werktätigen!), nun … ich komme vom Thema ab …

… als also die Schritte auf der unregelmässigen Oberfläche der Betonplatten zu knirschen begannen, da halfen auch nicht mehr die heimelige Verschwefelung der Atemluft und die wie Bühnennebelspeier arbeitenden innerlich von aktiven Ascheresten glimmenden riesigen würfelförmigen metallenen Müllbehälter (die mit der riesigen Dachschnauze und den zwei Luken darin): Es war kein Wetter, um vor die Tür zu gehen.

Das war ja ohnehin nicht so einfach, zwar schloss keiner die Haustüren der aus der Mitte der 60er Jahre stammenden Wohnblocks ab, allerdings wurde, sobald es kälter wurde, ein voluminöser schwarzer Vorhang aus schwerem, weite Falten werfenden dichtgewebtem synthetischen Stoff halbkreisförmig von innen vor die Haustüren gezogen, wodurch man im Dunklen Mühe hatte, in der Enge des Hausflurs hinauszufinden. Man sucht nach dem einen Schlitz in einer der vielen gewaltigen Falten. Oben schabten, halb klirrend, halb kratzend, die Ringe über das massive Stahloval, das den Vorhang hielt. Ich erinnere mich noch gut des Abends, als ich in der frühen Mitte der 90er Jahre, als die Blocks in einer meine langen Abwesenheiten renoviert worden waren, beim Besuch meiner Eltern nicht nur befremdlicherweise vor einer verschlossenen Haustür stand (insgesamt eine Kombination aus Lindgrün, dunklem Weiss und Magentaelementen), sondern auch dieser Vorhang verschwunden war. Das erschütterte mich mehr als manch andere Veränderung. Dieser Vorhang war der erweiterte Wintermutterbauch meiner Kindheit, wärmend, bergend, in seiner Masse gewaltig, immerdar, wenn sommers auch nur zusammengebunden hinter der Eingangstür lauernd. In diesem Vorhang hatten sich die Gerüche von 30 Wintern gesammelt, der Rauch der Öfen, die Dünste der sich hindurchwindenden Menschen, alt schon damals, blutjung, „im Leben stehend“ wie ich heute, die gekümmelten Kohl- und Kartoffelvariationen der Wochenenden, vom Gedankenwispern sich durchwurstelnder Existenzen.

Buddy you’re a boy make a big noise

Vor der Tür aber wartete M., der in meine Parallelklasse ging und mir im Jahr zuvor als einer aufgefallen war, der wie ich im Musikgeschmack nicht den Hitlisten des SFBs anhing. Der SFB, den man mit Mühe und Fingerspitzengefühl am Drehknopf des Tranisistorradios, dessen Antenne dazu noch die beste Ausrichtung brauchte, empfangen konnte und jedenfalls so lange hören, bis die Eltern von der Arbeit kommen würden. Also, M. Wir neigten der „unangepassten“ Rockmusik zu, mit Tendenz zum Heavy Metal. Das war bei mir aber nur ein Zugeständnis an die Dissidenz, wenn man von Led Zeppelin absehen mag, ohne viel Aufhebens pflegte ich meine Liebe zu den Liedermachern. Wahrscheinlich waren wir uns auch gegenseitig aufgefallen, denn in den Pausengesprächen und anhand des Looks, wie man damals sagte, erfuhr man mühelos, wohin jemand tendierte. Er und ich trugen jedenfalls Elpicojeans, jedenfalls ich, er hatte, soweit ich mich erinnere, Westverwandtschaft, aber ich kann mich irren. Also, Elpico. Man trug breite Hosenträger. Über einem möglichst gestreiften Hemd, notfalls auch über einem Pullover, und man trug Parka, damals sagte man: Studentenkutte. Schuhe, was eben passte. M. wartete also unten vor dem Block und hatte ungeduldig zum zweiten Mal geklingelt. Also los, ab durch den Vorhang. Draussen knirschten die Schritte.

Wir wollten in ein Dorf, 10 Kilometer nach Süden – was hier etwas romantisch klingt, aber weder an Landschaft, Wetter noch an irgendetwas änderte. Die Himmelsrichtung darf in diesem Zusammenhang als eine zufällige Angabe gewertet werden, aber die diejenigen, die diesen Text lesen, und die Gegend kennen, wissen dann jedenfalls, in welches Dorf wir fuhren. Keiner sprach es übrigens so aus, wie es geschrieben wurde, aber das nur nebenbei, die Alltagssprache kam in dieser Welt ebenso vernachlässigt und abgeschliffen daher wie auch alles andere. Was mir damals schon allein deshalb auffallen musste, weil ich durch meine belesene Mutter und eigenes gieriges Lesen von dieser platten vernuschelten Welt innerlich abgefallen war, die mich dann eigentlich nur noch erstaunte, als ob ich des Verfallsdatums bereits ansichtig geworden wäre. Zum Schutz vor Aggressionen vor allem männlicher Abnutzer lernte ich aus dem häuslichen, etwas erzgebirgisch akzentuierten Hochdeutsch kommend auch das Idiom der Bevölkerung. Aber das ist hier gar nicht das Thema.

Playin‘ in the street gonna be a big man some day

Vom Neubaugebiet bis zum Bahnhof der kleinen Kreisstadt war es ein Stück zu laufen. Eine bedeutende Eisenbahnstrecke durchquerte das Städtchen wie eine tiefe Schlucht. Wer hier alles durchgerast war auf dem Weg zur Frühlings- oder Herbstmesse, im Vorbeifliegen ein flüchtiger Blick auf das Ortsschild, das vor lauter Zischlauten selber noch dem Dampflokomotivenzeitalter verhaftet zu sein schien … und das damals noch nicht vorbei war in diesem Ländchen. Heute dagegen wirkt das Ortsschild als aus der Zeit gefallen. Vielleicht wird man bei der nächsten Gemeindereform die Zischlaute einfach streichen, vielleicht auch im Blick auf die enormen digitalen Speicherressourcen die das sparen würde. Daran dachten M. und ich damals selbstredend nicht, einige Themen hatten wir trotzdem, vor allem die Songdexde unserer Lieblingsbands, hier fanden wir uns, was aber kein unerschöpflicher Bereich war. Sonst schwiegen wir auch viel.

You got mud on yo‘ face, You big disgrace

Der Bahnhof lag hinter der grossen Schranke, hier stauten sich sonst Fahrzeuge aller möglichen sozialistischen Bauarten und vor allem Pulks von Fahrradfahrer*innen. Um diese Stunde an einem Samstag war aber alles leer. In den frühen 80ern hatte man eine schmale Fussgängerbrücke mit Fahrradschiebespur links und rechts über diese Eisenbahnschlucht gebaut, um dem Chaos etwas zu steuern. Merkwürdige langgezogene Betontreppenstufen. Jenseits der Schlucht stand der altertümliche Jahrhundertwendenbahnhof, dessen Interieur original war mit seinen zwei Fahrscheinverkaufsausgabescharten. Hinter jedem eine grosse Maschine, mit der die kleinen, aus dicker Pappe bestehenden rechteckigen Fahrscheine bedruckt wurden. Der hölzerne Zeitungskiosk (wo man, wenn man am richtigen Morgen des Monats erschien, ein Exemplar des Mosaiks für 60 Pfennig erwerben konnte). Auf der anderen Seite der Zugang zum – im muss es so sagen – absolut abgeranzten Mitroparestaurant, in der der Geruch von Zigarettenqualm und Erbrochenem aus den Gardinen strömte.

Ich rieche noch das vielbegriffene Holz dieser Einrichtung, das ich wie unter Zwang gerne anfasste, ölig, fast butterig, ein Holz aus anderer Zeit. Mich schauderte als Junge der Gedanke, dass dieses Holz noch zu Kaisers Zeiten eingebaut worden war, ein unfassbar weit entfernter Zustand und doch am gleichen Ort. Zu Kaisers Zeiten, als man mit den Zügen von hier noch bis Stuttgart fahren konnte! Auf den Bahnsteig durfte man nicht gehen, weil es ein vielbefahrener Durchgangsbahnhof war, also staute sich alles im Inneren zu dichten Trauben, bis der Bahnhofsvorsteher kurz vor Einfahrt des haltenden Regionalzuges mit einem klimpernden Schlüsselbund die grossen Schleusen öffnete und alles nach draussen strömte. Dort, in diesem Bahnhofsraum, war auch an diesem Samstagabend erstaunlich viel los, sehr viel Jugendliche unseres Alters, meistens aber etwas ältere, 20-22-jährige. Alle fuhren sie zu dieser angesagten Disko im Dorf nahebei. Dort wollten auch wir hin.

Wavin‘ your banner all over the place

Diese Disko fand im Gesellschaftssaal der LPG statt, dort, wo in der Woche auch die Kantine der Landarbeiter*innen untergebracht war. Am Samstagabend gehörte dieser Raum einer geheimen Messe der jungen Leute aus dem Dorf und der Kreisstadt. Im dunklen Dorf strahlten die hellerleuchten Fenster des Saals den vom Bahnhalt heranziehenden Massen schon von weither verheissungsvoll entgegen, von drinnen hörte man schon Musik und Tanz, am Eingang stauten sich alle. Diese Disko war „in“, aber zugänglich erst ab 18. M. und ich waren grossgewachsen, trotzdem waren wir bang. Der Ton war rauh, körperliche Gewalt nicht ungewöhnlich, es herrschten die Regeln des Undergrounds. Wir kamen hinein, wir Glücklichen, stellten uns in eine Ecke, in der Hand jeweils ein Glas des schalen billigen Biers, das man dort bekam, bald schwenkten wir um auf Colawodka (bewusst so geschrieben). Wir standen und schauten. Wenn Heavy Metall gespielt wurde, was dort häufig geschah, begannen wir wohl auch mit den konvulsivischen Bewegungen unserer Extremitäten und damit, den Kopf nach hinten und vorn zu werfen, was dazu eben so üblich war. Übrigens trugen wir beide Varianten der Vokuhila, was das Maximale an Hardrockigkeit war, das in der Schule akzeptiert wurde. Jedenfalls muss man sich unser Headbanging als nicht sehr spektakulär vorstellen.

Somebody better put you back into your place

Zu einer bestimmten Zeit ging eine Parole durch den vollgefüllten Saal: Jetzt Queen! Bis auf wenige Ausnahme sammelten sich alle soweit möglich auf der Tanzfläche und knieten sich hin, in einer Haltung, die mich an den Gottesdienst einer Moschee gemahnt hätte, hätte ich damals schon eine Idee davon gehabt, wie es zu einem Gottesdienst in einer Moschee aussieht. Ich will sagen: Wir sahen es, taten mit – wie verbanden damit aber keinerlei Assoziationen. Es war merkwürdig, irgendwie witzig. Dann die ersten Klänge von „We will rock you“. Den Rest kann man sich vorstellen.

Irrwitzig, im hinterletzten Industriedorf einer bis heute vergessenen Provinz, in einer LPG-Kantine, bei diesem Scheisswetter, colawodkabenebelt ein fast religiöses Erlebnis. Unvergesslich.

‚We will we will rock you‘
Singin‘
‚We will we will rock you‘
Everybody
‚We will we will rock you‘
‚We will we will rock you‘
Alright.

Als ich heute im Kino war und diesen Film gesehen habe, kam es auch zu der Szene, in der dargestellt wird, wie die Gruppe um 1976/77 für eine neue Art von Song und Konzertperformance die Idee entwickelte. Das Publikum zum Teil der Gruppe zu machen, zum Teil der Musik. Das war der Plan.

Ich kann sagen: Es hat funktioniert. Bis hin zu diesem Samstagabend Ende November 1986 in einem Outback, das nur noch in Erzählungen existiert und mir heute nur noch wie ein verwehender Alptraum erscheint.

Ich liebe diesen Film.

Hier geht es zum Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=CwAjcU2_maI&fbclid=IwAR3i6MqsmzB5OP9UvhWbsBIibK6zBN9-vCiBtG-NaymBFNBDo8aV6u5EpVA

Abbildungsnachweis: Ronneburg Bhf, DDR am 1.12.1979 (c) Michel Huhardeaux via Flickr.

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