DAS

„FDJ-Geschichtslehrerkollektiv ‚Fritz Scheffler‘ Neuwürschnitz“

Klingt wie aus einer Zonensatire? Ja, das dachte ich auch, als ich 1994/95 darauf stiess. Damals arbeitete ich seit ein paar Monaten während der Vorlesungszeiten als studentische Hilfskraft für meinen späteren Doktorvater. Nach den Abwicklungsprozessen des Jahres 1992 war er auf eine der freigewordenen Stellen berufen worden und hatte in der Folge dann das Dienstzimmer seines Vorgängers im 25. Stock des Unihochhauses der Heldenstadt bezogen.

Dieses Dienstzimmer war wie über Nacht verlassen. In den Regalen war noch diverse Literatur enthalten; „graue Literatur“ vor allem, die drüben freieres disziplinäres Publizieren jenseits der hohen Schranken der spezialisierten, papierkontingent- und gremienlimitierten Berliner Fachbuchverlage ermöglichte. Die beiden grössten und einheitlichen Bestände wurden von den Reihen zum einen der in der DDR entstandenen und nicht in Verlagen veröffentlichten Diplom- und Doktorarbeiten des Fachbereichs gebildet und zum anderen von einer vollständigen Sammlung der seit 1948 erscheinenden einschlägigen Fachzeitschrift.

Nun, B.S., der Doktorvater, hatte Sinn und ehrliches Interesse für diese Hinterlassenschaften seiner Vorgänger, sein von ihm betriebener Forschungsschwerpunkt zur Geschichte der historischen Bildung in der SBZ und DDR brachte einiges hervor. Was er auch mitbrachte aus dem exotisch fernen Münster in Richtung Amsterdam und London, das uns von der Gruppe seiner neuen Mitarbeitenden unterschiedlichen Ranges bald in mythischer Verklärung wie ein akademisches Arkadien erschien, was er also auch mitbrachte, das war sein damaliges Faible für den Einsatz von PC-Programmen in der historischen Forschung, von ihm lernten wir das Schreiben mit WordPerfect, aber auch den Umgang mit einer Datenbank wie AskSam. Beide zeitlich gegenläufigen Impulse sprachen mich an, sie erschienen mir damals singulär an dieser Universität, die wieder ohne Namenspatron auszukommen hatte.

Auf das „FDJ-Geschichtslehrerkollektiv ‚Fritz Scheffler‘ Neuwürschnitz“ stiess der Studiosus, weil ihm bald die übliche Arbeit der studentischen Hilfskräfte, nämlich damals vor allem das Bedienen riesiger Kopiermaschinen in stickigen Kleinsträumen und die Just-in-time-Zulieferung von kopierter Literatur an den Chef gerne auch nach Hause allein etwas lang zu werden drohte. Es war aber nicht schwer, B.S. davon zu überzeugen, dass ich mich auch spezialisieren könnte. Die Zahl der studentischen Hilfskräfte war allerdings auch so gross, dass es auf eine Kopierkraft mehr oder weniger nicht ankommen mochte. Eine Datenbank zur systematischen Erschliessung aller Ausgaben dieser Zeitschrift erschien jedenfalls vielversprechend. In den folgenden drei Jahren habe ich wesentlich mit dieser einsamen Arbeit mein universitäres Zubrot verdient. Aber immer mit Blick über Leipzig.Leipzig,_Universität_--_1986_--_26.jpg

Am Ende umfasste die Datenbank über 8000 umfangreiche Datensätze und ein ausziseliertes und immer wieder optimiertes und standardisiertes Metadatensystem. Ja, so kam ich denn auch auf diese zonensatirische kommunistische Boyband.

An all das erinnert habe ich mich, weil ich einen kurzen Text zu schreiben habe über den Vergleich zwei digitaler akademischer Textrepositorien, der wohl auch demnächst erscheinen wird, eine Umzugsgeschichte. Wenn man umgezogen ist, merkt man, was man vergessen hat, so auch hier.

Vor ziemlich genau 19 Jahren erschien mein erstes Buch, ein schmaler Band von nur 136 Seiten. Sehr sehr lange hatte ich damit nichts mehr zu tun, bei meinen seltenen Bewerbungen der letzten 10 Jahre hat es nie eine Rolle gespielt, ich hatte davon nicht einmal eine PDF-Version. Deshalb war es auch beim digitalen Ressourcenumzug nicht beteiligt. Es war bald nach seinem Erscheinen sehr übelwollend rezensiert worden, und zwar von jemandem, der als Doktorand parallel an einem ähnlichen Projekt arbeitete, also Interessen hatte. Das hatte mich damals verunsichert.

Die phänomenale Merkwürdigkeit dieser kollektiven Autorenbezeichnung, die wie aus dem Nichts eine grosse Anzahl von Publikationen in der wesentlichen Etablierungszeit der SED-Diktatur zur Veröffentlichung brachte, und auch die genaue Kenntnis aller weiteren 40 Jahrgänge dieser auf diesem Gebiet einzigen Fachzeitschrift in der SBZ und DDR gaben erst Anlass zu Kaffeepausen-Spässen unter Kolleg*innen, dann aber schnell zu einer Herausforderung: Lässt sich etwas über die Geschichte dieser Geschichtslehrerkollektivisten aus Neuwürschnitz erfahren, die als Kollektiv 1952 ebenso plötzlich vom publizistischen Erdboden verschwanden wie sie 1949 aufgetaucht waren? Wetten wurden keine angenommen, aber die vorwaltende Skepsis motivierte mich enorm. Und so zog ich denn los.

Es war die Zeit des sehr frühen Internets, eigentlich benutzte ich das damals noch nicht, der erste Emailaccount (AOL) war gerade experimentell angelegt, faszinierte stöberte ich durch den nahezu endlos gestaffelten Katalog von Yahoo. So etwas wie Google hätte man sich nicht im Traum vorstellen können. Wer den PC anschaltete, war nicht automatisch online. Was mir digital half, war das damals noch umfassend gefüllt deutsche Internet-Telefonbuch. Wie dankbar war ich dafür, bei einem früheren Rechercheprojekt hatte ich noch zur Hauptpost gehen müssen, um die dort aushängenden 40-50 Telefonbücher aller deutschen Bundespostbezirke zu wälzen.

Einmal waren ganz am Anfang die bürgerlichen Namen der Geschichtslehrerkollektivisten in der Zeitschrift genannt worden, einen fand ich im neuen Internet-Telefonbuch. Der Rest war Durchfragen, mit einem Tonband unter dem Arm, Zeitzeugenunterviews im Erzgebirge und in Berlin, und Archivrecherchen in West- und Ost-Berlin, die Akten des Volksbildungsministeriums, der zuständigen SED-Abteilungen und des Verlages „Volk und Wissen“ waren längst in Lichterfelde zu finden, einiges auch an der Oberbaumbrücke in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung.

Noch heute bin ich aber dem so freundlichen Helmut Scheibner † dankbar, den ich in Neuwürschnitz treffen und interviewen konnte, und ich denke auch dankbar an das Interview mit Ehrenfried Schenderlein in Berlin, der schon kurz danach verstarb.

Worum gehts in der Geschichte?

Es ist die Zeit des heraufziehenden und manifesten Kalten Krieges. In einer abgelegenen sächsischen Gemeinde beschliesst eine Gruppe sehr junger, kaum ausgebildeter und beruflich völlig unerfahrener „Neulehrer“ mit Enthusiasmus, ihren Geschichtsunterricht gemeinschaftlich und systematisch zu verbessern. Sie sind Bekannte Adolf Henneckes, ihre Schulen befinden sich in seinem Steinkohlenrevier. Sie haben die Idee, Aktivisten der Geschichtspropaganda werden zu können. Die zentrale neue Fachzeitschrift für die historische Bildung beginnt kurz darauf, zahlreiche Artikel dieser Neulehrergruppe zu publizieren. Sie werden im weit entfernten Berlin zu Vorbildern für etwas gemacht, was in diesem Buch als systematische Politik der Sowjetisierung des ostzonalen Bildungswesen detailliert vorgestellt wird (1948/49). Wenig später befindet sich der Kern der Gruppe an verantwortlicher Stelle am zentralen und einzigen und direkt ministeriell gelenkten pädagogischen Verlag der DDR in Berlin und gewinnt im Weiteren spürbaren Einfluss auf die pädagogische Geschichtspolitik dieses Staates am Rande und zugleich an der äussersten westlichen Grenze des sowjetischen Imperiums. Diese erstaunliche Karriere gibt den Anstoss für die vorliegende Studie. Sie untersucht ein bedeutsames Element des „DDR-Systems“ in der Phase seines Aufbaus und analysiert es als exemplarischen Fall. „Geschichtspropaganda“ und „Aktivistenbewegung“ werden dabei als essentielle historische Begriffe begründet und analytisch verwendet, ohne die, wie zu zeigen versucht wird, sich das vergangene Handeln der tragenden Funktionärsschicht dieses neuen Satellitenstaates nicht hinreichend verstehen lässt.

Hier geht es zur digitalen Version des Buches:

https://hcommons.org/deposits/item/hc:23001/


Abb.: by Dietmar Rabich, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30561883

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