चंद्रयान.

Let me see what spring is like on
A-Jupiter and Mars

Im Fond des Ambassador sass man wie in diesen alten GAZ M-21. Sie kam ihm plötzlich in den Sinn, diese Assoziation, dem 25-jährigen, denn das war eines seiner frühen und unauslöschlichen Kindheitserlebnisse gewesen, als er einmal seinen Vater begleiten gedurft hatte, als kleiner Junge, den Vater restlos bewundernd und verehrend. Er musste lächeln über diese Erinnerung, jetzt, da er Tausende Kilometer ostwärts entfernt in einer Gegend war, über nächtliche Strassen fliegend, die er längst ebenso zu lieben gelernt hatte, in dieser Nähe, die keine Nähe ist.

Nein, nicht „gelernt“, das klingt falsch. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, wie man so sagt, oder doch nur eine Ungeduld des Herzens; hinein stürzte er sich ins ganz entschieden Abwesende, noch in seinen letzten Tagen als Inhaber einer verschwindenden Staatsangehörigkeit.

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By shankar s. from Dubai, united arab emirates – Ambassador taxi, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=69552199

Während ich dies schreibe, läuft im benachbarten Bildschirmfenster der Livestream der ersten indischen Mondlandemission. Auf Twitter sehe ich indische Freunde mitfiebern unter dem Hashtag #Chandrayaan2, चंद्रयान-2. Was für eine Entwicklung … gerade „ungeheuerlich“ für alle, die Indien, diesen in sich universalen Subkontinent, dieses kontinuierlich diskontinuierliche Kulturamalgam aus Tausenden von Jahren, heute fast 1,4 Milliarden Menschen diverser Sprachen, länger und mit etwas Aufmerksamkeit verfolgen. Seit Monaten, Jahren werden wir in Westeuropa von Nachrichten umspült über technisch-kulturelle Fehl- und Mangelleistungen. Keiner weiss, wohin. Indien startet seine Mondmission.

Als er das erste Mal nach seinem Sehnsuchtsort gereist war (wusste er, wie ihm geschah? das erste Mal im Frankfurt am Flusse Main nur, um nach Indien zu kommen), schätzte man dort, 700 Millionen Einwohner*innen zu haben. Die Liberalisierung der indischen Wirtschaft war gerade erst begonnen worden, Narasimha Rao, dieser unwahrscheinliche Ministerpräsident aus den Reihen der Sikhs, war erst ein paar Monate im Amt, trotzdem zeigten sich schon überall die Ansätze neuen Unternehmungsgeistes, im Guten wie im Schlechten, Indiens retardierter Deng-Xiaoping-Moment, wenn man so will. Aber es war auf den Gassen, Bahnsteigen, den Bussen, den Märkten, unter all den Menschen, noch so, wie er es in den landeskundlichen Lehrveranstaltungen seines Studiums bei der Grande Dame der Hindi-Forschung, die in den 1960er Jahren längere Zeit hatte nach Indien zum Studium reisen dürfen, kennengelernt hatte, wie er es sich in seinem hungrigen Kopf vorgestellt hatte, wie es auf den Bildern der Bücher in der Universitätsbibliothek, deren indologische Bestände noch immer in dem vom Krieg restverschonten Flügel der ansonsten abgezäunten Bombenkriegsruine hinter dem ehemaligen Reichsgericht, das damals aber noch immer Georgi-Dimitroff-Museum genannt wurde, zu finden waren. Oder wie es sein wundervolles Hindi-Lehrbuch, ebenfalls aus den 1960er fasslich machte. Dieses Buch war tschechischer Herkunft, seine Lektionen dreisprachig Tschechisch-Englisch-Hindi, und wies liebevolle Schwarzweiss-Illustrationen indischen Alltagslebens auf.

Ich drehe mich um. Direkt hinter mir im Bücherregal ist, noch immer sehr nah, dabei seit vielen Jahren, bald sind es 25, nicht mehr gebraucht, meine indologische Abteilung. Aber, es ist so, wie ich es befürchtete. Ich habe dieses Buch nicht mehr. Wahrscheinlich hatte ich es damals auch nur über diese kostbaren Jahre in den Händen, weil es mir, wie es in der Zwischenzeit bis 1992 noch üblich blieb, aus dem Institut geliehen worden war. Im Netz finde ich keine Abbildung. Zu alt, um dort überhaupt noch als Foto gesichert zu sein, auch im digitalen Antiquariat nichts.

Jetzt habe ich mehr als eine halbe Stunde im Netz weitergesucht, auch im Katalog meiner alten Universitätsbibliothek, ich finde es nicht. Das macht mich etwas traurig. Wenn der Zugang zum Gewesenen versperrt ist, ich gegen die milchgläsernen Mauern des Verschwindens stosse. Keine Überreste sich finden lassen. Ich sehe es vor mir: Abgegriffen, Seiten angegilbt, voluminös, schwer, hellgrüner Leineneinband. Der Name des Autors mit Pe… puh. Ich gebe auf, vielleicht fällt es mir noch ein. Geruch leicht modrig … das war aber der von dem Bombenschäden doch nicht ganz trocken bleibende Bibliothekskeller gewesen. Aber es verwob sich notwendig. Materiell war es wie ein Teil dessen gewesen, womit es sich beschäftigte. Als ich dann endlich als Gaststudent der Rajasthan State University dort war, an- und hinlangte, ja: landete, wo mich der anti-utopische Landkartenzeigefinger schon als noch kindlichen Jugendlichen 10 Jahre zuvor immer wieder hingeführt hatte, wo die Abenteuerromane spielten, die ich, wie sagt man?, „verschlungen“ hatte, da bemerkte ich buchstäblich schrittweise, mich vortastend, schnüffelnd wie ein Hund auf Fährtenarbeit, dass es alles irgendwo doch anders roch. Spuren des Modergeruchs waren aber trotzdem vielfach gegenwärtig, und das nicht nur wegen der offenen Kanalisation, auch in den grossen Städten.

Schlagend war der Effekt der Wiedererkennung in der Bibliothek der staatlichen Universität in Jaipur, wo er sich auf seine geplante Reise nach Kashmir und Ladakh vorbereitete, die er er sich für den Sommer 1992 vorgenommen hatte, er wollte nur das Abklingen des heftig ausfallenden Monsuns abwarten und sich von einer Entzündung auskurieren. Dass er dann seinem Herzen nach Süden folgte, und nicht den nachgefolgten Studienfreunden nach Norden in den fernen Himalaya, das ist eine andere Geschichte, die mehr Zeit, mehr Mut, mehr Kraft erfordert als diese hier. Nun …, in dieser Bibliothek funktionierte alles anders. Sie war klein, nur vielleicht zwei Dutzend indische Kommilitone*innen arbeiteten dort. Die Bücher waren nicht frei zugänglich. Ein quadratisches Loch war in einer Wand, vielleicht 50 mal 50 Zentimeter gross. Dahinter sass eine Angestellte, der man die gewünschten Literaturtitel mitteilen konnte, was ich tat. Sie wirkte nicht sehr motiviert.

Überhaupt war der Umgang mit so offensichtlich Fremden – die Studentinnen trugen Panjabi, die Dozentinnen Sari, die Studenten und Dozenten Varianten der Kurta, er dagegen, zumindest noch 1992, Jeans und Hemd – bemerkenswert. Dort in den modernen Bezirken der grossen Provinzstadt, auf dem Campus, weitab von der durch den Lonely Planet vorgepflügten Touristenroute zum „Palast der Winde“ in der pinkfarbenen Altstadt, waren gewiss noch nicht viele seinesgleichen aufgetaucht, aber … man vergab sich nichts, beobachtete nur verstohlen, dennoch, wie unschwer zu bemerken war, intensiv, wie im Wegschauen. Dort studierten die Töchter und Söhne der gehobenen Mittelklasse, man hielt etwas auf sich zugute!, die soziale Reputation wurde tausendfältig in sittlichen Praxen reproduziert. Im direkten Kontakt mit ihm gab man sich möglichst desinteressiert bis fast unfreundlich, man wusste sich durch alle anderen beständig beobachtet. Wer nicht in so fein austarierte Systeme passt, für den in diesen Systemen kein Platz vorgesehen ist, der wird abgekapselt. Die Erfahrung sozialen Kontakts änderte sich schlagartig, wenn man das Grundstück der Gastfamilie oder den Campus verliess. Die, die an Sozialprestige nichts oder nur kaum etwas einzubüssen hatten, die kannten keine Berührungsängste, keine falsche und richtige Zurückhaltung. Irgendwann, bald nach dieser Bibliothekssituation, als ich etwas wagte, in jenem Sommer 1992, passte ich mich den Bekleidungsnormen an, mit meinen dunklen Haaren, indischer Rasur und Frisur und meinem leidlichen Hindi tauchte ich unter.

Aber zurück in die Bibliothek. Irgendwann verlor er die Geduld, seine wiederholten Nachfragen liefen ins Leere, oft war der Platz hinter dem Fenster auch gar nicht besetzt. Er sah, wie seine indischen Kommilitonen ihrerseits auch das Fenster und die neben dem Fenster hinter Glas auf vergilbten Papier statuierten Bibliotheksregeln ignorierten und 20 Meter weiter durch eine andere Öffnung in der Wand gingen, die einmal von einer Tür ausgefüllt worden gewesen sein musste. [Hier muss ich jetzt einen Absatz machen. Vielleicht ist es schon zu spät: 0:47 Uhr.]

Sei es, wie es sei mit dieser Tür: Irgendwann fasste es sich ein Herz und tat es nach. „Hol ich mir eben selbst meine Bücher!“, dachte er sich, ungehalten. Oh, wie hefteten sich Dutzende Augenpaare auf seinen Rücken und seine linke Seite, physisch durch das Hemd spürbar, merkwürdigerweise. Dann war er um die Ecke und gleich mitten im Bücherlager: eine Halle, nach hinten unabsehbar weit, 6 Bücherregale breit, kein Mensch zu sehen. Jetzt sah er auch das Loch von der anderen Seite: ein kleiner Holztisch, ein Schemel, ein Stapel Zettel, ein Karteikasten, Kugelschreiber. Er wendete sich zur Halle um, und suchte seine Signaturgruppe, die er im grossen Zettelkatalograum im Eingangsbereich der Bibliothek ermittelt hatte. Der Weg führte ihn an den ersten Reihen ordentlich sortierter Regalreihen vorbei. Dahinter entdeckte sich ihm ein Archipel des Chaos: umgestürzte Regale, Haufen von Büchern, überall nach die Feuchtigkeit des Monsuns. Dazwischen hielten sich tapfere Regal mühsam aufrecht. „Was für ein Hort der ordentlichen Gelehrsamkeit war dagegen die Ruinenwirtschaft der alten Universitätsbibliothek in L.!“, dachte er sich, enttäuscht, betroffen. Er stieg hindurch, hatte Glück, dass die Ladakh-Literatur in einem der aufrecht gebliebenen Metallgerüste stand. Nahm sich, was er brauchte. Trug es unbehelligt nach draussen, wo er, schneller atmend, erhitzt, schlechten Gewissens, seinen Platz wieder aufsuchte und zu arbeiten begann, jedenfalls sich mühsam ins konzentrierte Lesen hineinkämpfte. Nach ein paar Stunden brachte er die Bücher wieder um die Ecke, legte den Stapel im vorderen Bereich der Halle auf einen freien Regalplatz, wo er sich am folgenden Tag wieder bediente. Und in dieser Zeit war der modrige Büchergeruch seines tschechischen Hindilehrbuchs wieder vertraut um ihn.

Indien hatte ihn schon früh angezogen. Doch blieb diese Faszination bei weitem luftiger, unwirklicher als seine Irlandliebe. Was genau den ersten Anstoss gab, das bleibt im Dunkeln. Vielleicht war es Nehrus Weltgeschichte, die er im Gefängnis für seine kleine Indira geschrieben hatte und die in den heimischen Bücherschränke zu finden gewesen war. Politisch wurden Mahatma Gandhis Ideen von gewaltlosem Widerstand seit 1987 wichtig, darüber wurde bei den endlosen Kerzenscheinsoirees unter den Freunden diskutiert, darin sah man einen Weg möglicher Emanzipation trotz der unausgesprochenen und völlig verinnerlichten Präsenz einer übermächtigen fremden Macht im Lande. Wir ahnten das mehr, als dass wir das wussten. Unsere Faszination für fir Kultur Gandhis war jedenfalls bei vielen und mir nicht zuletzt ab geweckt und lebendig. Gandhi-Literatur war staatlicherseits geduldet, immerhin war ein ein antiimperialistischer Kämpfer und galt als einer der Guten, auch weil sein Erbe Jawaharlal Nehru sich offen vom Staatssozialismus beeinflussen liess. Es wäre einmal eine Untersuchung wert, inwieweit die Gandhi-Rezeption nicht auch einen merklichen Einfluss auf die sagenhafte Friedliche Revolution hatte.

Das Kloster Lamayuru und die Riten seiner Mönche und Gäste habe ich bis heute nicht gesehen. Dem Mond wollte ich nah sein im Ladakh. Schon 1992 war es aber gefährlich geworden für Touristen durch Kashmir dorthin zu reisen. Seine Studienfreunde versuchten es und hatten noch Glück. Sie kamen zwar nicht durch, aber zurück. In den Jahren danach liessen ihn Warnungen indischer Freunde andere Regionen des Himalaya aufsuchen, zu Recht (i). In Himachal Pradesh und Sikkim war er dem Himmel dann auch sehr oft sehr nah, dem Lichtsmog der Zivilisation ebenfalls, diesem Mond als überwältigenden Riesenkörper aber sehr nah.

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Im Ambassador, gesehen durch das offene Fenster von der Rückbank, das Glas soweit als möglich heruntergeleiert, war der Mond dagegen klein und leuchtete nur schwächlich. Die Dunst- und Dreckglocke war über Delhi gestülpt. Trotzdem sah er, etwas waidwund, nach ihm hin, dem Mond, ausgefüllt mit widerstreitenden Gefühlen. Das Auto schaukelte wie ein Boot, das von den Wellen eines vorbeigefahrenen Schiffes getroffen worden ist. Er war der kleine Junge, der von der Rückbank auf die Köpfe seines Vaters und des Fahrers blickte, in Gedanken war er zugleich in wilden Sprüngen kreuz und quer in seinen indischen Jahren unterwegs, und er war auch ganz gegenwärtig dort im Fond dieses Wagens im Konstruktionskonzept der 1950er, diesem ewigen indischen Lizenzbau britischer Nachkriegsindustrie, er war in diesem Wagen Mitte April 1995, und er wusste: Das ist ein Abschied für lange. Vielleicht für immer. Gegenwärtig war neben dieser Gewissheit sein Geruchssinn.

Was wehte da nicht alles durch das Fenster. Er labte seine Nase, seine Nasenschleimhäute, seinen Hals und seine Lunge zum letzten Mal an seinem Indien, diesem unverwechselbaren Gemisch vom Brand unzähliger offener Feuer, von den Dutzenden Bidis, die der Fahrer unablässig rauchte, von der Verwesung von Organischem, was irgendwo sein Leben ausgehaucht hatte, vielleicht auch noch von der Yamuna her, die gar kein Fluss, sondern eine klebrige Schlange war. Dass sich aus all dem Widerwärtigen nichts Widerwärtiges ergab, dieses Wissen würde er niemals verloren haben werden.

Moder war allerdings nicht wahrzunehmen: der Monsun war lange vergangen. Indien harrte des unbarmherzigen Sommers. Und er? Er kam endgültig zu dieser Welt und freute sich nicht darauf.

Fly me to the moon
Let me play among the stars
Let me see what spring is like on
A-Jupiter and Mars

Ach, Franky.


 

Nachtrag, nächster Morgen, Mittag fast:

Ich habe mich erinnert! Unter der Dusche, wieder einmal. Der Pořizka!
Es handelte sich um:
Vincenc Pořizka: Hindśtina: Hindī language course. 534 pp. Praha: Statní Pedagogické Nakladatelství, 1963.

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