Meine geneigten Leser*innen wissen es, ich stromere mittels eines muskelbetriebenen Zweirades gerne herum.

Vor nunmehr zwei Wochen wollte ich endlich einmal diesem unauffälligen Hinweisschild an der Bundesstrasse nachgehen, das zu einer „Andrijan-Nikolajew-Siedlung“ führt, über die auch im Kreis der mir bekannten und gewöhnlich gut informierten Darssianer niemand etwas wusste.

Auch im Internet findet man dazu nur sehr wenige weiterführende Informationen, ein Blog über die DDR-„Luftwaffe“ nennt in einem Beitrag eine 1961/62 dort stationierte Flugabwehrraketen-Abteilung der NVA, ergänzt mit einer idyllischen Kindheitserinnerung. Es handelte sich um die Fla-Raketenabteilung 4322.

Jedenfalls findet man bei der Wikipedia etwas mehr zur Person:
Andrijan Nikolajew war der dritte Mensch im Weltall, er war auch als Mondfahrer eingeplant und war (auf Wunsch von Chruschtschow angeblich) mit Valentina Tereschkowa verheiratet, der ersten Frau im All. Und so weiter, eine eigene Geschichte. Aber warum heisst eine Ansammlung von ein paar Häusern in einem vorpommerschen Forst nach ihm? Es war wohl, vermutet ein Blog, der zeitliche Zusammenfall des Weltraumfluges und der Einweihung des NVA-Stützpunktes.

Also hin. Die Karte zeigt einen fahrbaren Weg, der diese Siedlung wieder nach West verlässt, es liess sich also scheinbar gut in eine Boddenumfahrung einbauen.

Eine vielleicht 3 km lange DDR-typische Betonstrasse, nach 1990 mit nur sehr dünner Schicht asphaltiert, führt mitten hinein ins ausgedehnte Waldgebiet, an ihrem Ende trifft man auf eine ebenso DDR-typische Garagenreihe, offenkundig seit einiger Zeit unbenutzt.

1- Häuserblock

 

Dann folgen vier zweigeschossige Wohnblöcke im Stil der 1960er Jahre. Alles sehr heruntergekommen, unbewohnt wirkend, keine Menschen, überwuchert von Vegetation.

Etwas irritierten mich allerdings drei frisch geputzte blitzblanke und zwischen den Blöcken parkende Autos. Unheimlich.

Sonst war nichts zu sehen, völlig unspektakulär. Das sollte diesen Namen rechtfertigen?

1- Karte

Ich suchte um weiterzufahren, denn 70 Kilometer lagen noch vor mir, den auf der Karte ausgewiesenen grösseren Weg zur Durchfahrt in Richtung West, fand ihn aber nicht, es gab nur die üblichen geraden Forstschneisen. Kein Hinweis, kein Schild.

Dem Kompass folgend entschied ich mich dann für diejenige Schneise, die dem Kartenweg am ehesten entsprechen sollte, folgte ihr einen weiteren Kilometer oder etwas mehr in den Wald. Der Forstweg wurde enger und überwachsener, nahm dann plötzlich viele kleine Kurven, ich hatte aber den Kompass.

Plötzlich sah ich mich dann (jetzt helfen nur Metaphern) in einer Tarkowskij-Szenerie1- Bunker riesiger alter Bunkeranlagen, unübersehbar in ihrem Umfang und ihrer Lage, die wie die alten Maya-Tempel vom wilden Grün überdeckt waren, nahezu eins geworden mit der umgebenden Natur.

Erleichtert war ich, als ich irgendwann nahezu querfeldein einen Pass zurück in den normalen Wald fand.

Das hat mich beschäftigt.
Also Old School ins nächste Heimatmuseum. Dasjenige in Barth gehört sicher zu den bestgepflegten seiner Art. Frage an den Angestellten vom Dienst. Und ja, oho.

Den Heimatforscher*innen ist der Ort grundsätzlich bekannt, aber er ist nur teilweise erforscht und in der Gegenwart fast tabuisiert. Ein Rostocker Blogger (Heidefuchs) habe einmal (ich referiere) eine Dokumentation online gehabt, musste sie dann aber (veranlasst durch wen?) wieder vom Netz nehmen.

Die Nazis haben dort 1939/40 eine grosse Munitionsfabrik errichtet, in der neben deutschen Spezialisten auch Kgf und Zwangsarbeiter*innen tätig waren, Belegschaft insgesamt 3500. Dieses Werk war nahezu komplett massiv verbunkert, diese Bunker lugen dort überall noch immer aus dem Gehölz. Das Besondere noch an diesem Werk: Es war in seinen Apparaturen auf die Produktion von Chemiewaffen vorbereitet, bei einer entsprechenden Eskalation wären viele davon aus diesem Wald gekommen.

(Etwas weiterführend dazu: Martin Albrecht/Helga Radau: Stalag Luft I in Barth. Britische und amerikanische Kriegsgefangene in Pommern 1940 bis 1945. Schwerin 2012, S. 27f.)

1 - Lageplan
aus Albrecht/Radau, s. 28

Das riesige Gelände wurde niemals systematisch de-kontaminiert, so die Auskunft im Museum. Es wird bis heute durch keinen Zaun, keinen Karteneintrag, keinen Hinweis geschützt. Es gebe diverse verseuchte Wasserlöcher.

Es existiert eigentlich nicht. Denn nach dem Krieg sei alles gesprengt worden, meint ein Blogger 2002.

1- Satellitenbild (by Moritz Hoffmann)
Screenshot aus GoogleMaps, merci an Moritz Hoffmann

 

Wie passt nun aber die kleine NVA-Fla-Stellung zu dem sowjetischen Kosmonauten? Was hat das alles mit diesen vergessenen Bunkerbauten zu tun?

Eine plausibles Gerücht kam mir in Barth entgegen:
Die NVA nutzte einen Teil der riesigen Bunkeranlagen für spezielle Raketentruppen. Daher der Kosmonaut.

Es waren die Teile der Raketentruppen, die im Kriegsfall mit nuklearen Sprengköpfen ausgerüstet worden wären. Es ist möglich, militärisch sogar wahrscheinlich, dass solche dort auch lagerten.
Ich muss an Klaus denken (siehe dessen Geschichte), der dieser Truppe angehörte und von ihrem Nukleartraining in der kasachischen Steppe berichtete.

Will es der Zufall? Zwei welthistorische Eskalationsendstufen hinter einem Schild im Wald von Nirgendwo. Präparierte Eskalationen.

Mahnend jedenfalls, wie alles schon einmal war, kürzlich.

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