Ich musste nochmals zurück nach Italien.
Cividale, nicht nur wegen der lupenreinen Renaissancebauten incl. Palladio, vor allem wegen dieses „Volkes“ von vielleicht 100‘000 Personen, das Mitte des 6. Jahrhunderts, ursprünglich wohl zu grossen Teilen von der Mittelelbe kommend, in diversen Migrationskonflikten andere Kulturen und „Ethnien“ aufnehmend, über den bequemen Robič-Pass nach Norditalien strömte, über den zuvor und danach so viele zunächst fremde Anderskulturige meist feindlich gekommen sind, und dort ein Königreich errichtete, dessen Idee weit über die 200 Jahre hinaus bestand hatte, in denen seine Obrigkeit direkt Herrschaft auszuüben vermochte.

Dieses „Volk“ und seine institutionellen und ideellen Gerüste war deshalb weltgeschichtlich bedeutend, weil es auf der italischen Halbinsel eine politische Suprematie etablierte, die nicht mehr imperial, sondern königlich war. Die eiserne Krone, die dies symbolisierte, war unter allen „Italien“ beherrschenwollenden Mächten bis hin zu Napoleon in bedeutsamem Gebrauch.

Ob man dieses „Volk“ nun „Langobarden“ nennt, wie sie es selbst in Anlehnung an römische Überlieferung taten, ist im Grunde egal. Wenn man es, wie fast alle, tut, läuft man freilich in Gefahr einer von den Akteuren selbst gewollten ethnischen Substantialisierung zu unterliegen. Relativ gewiss scheint man sich jedenfalls der einigen Tausend Sachsen zu sein, die Teil dieses offenkundig und für damalige Verhältnisse bewunderswert gut organisierten Migrationshaufens waren.

Was mich besonders anspricht, das ist diese eigenartige synkretistische Kultur, die sich im Herrschaftsgebiet dieser Zugewanderten ab Mitte des 6. Jahrhunderts entwickelte. Sicher ein wesentliches Erfolgsmoment dieser Sich-selbst-Langobarden-Nennenden. Ansprechend (mich) und recht typisch für die frühe Christianisierung der „Germanen“ auch die arianische Form des Christentums, die darauf bestand, Jesus als Menschen zu sehen. Dies zeigt sich für mich auch in den „langobardischen“ Bildwerken von Cividale.
Dabei blieben die Einflüsse der byzantinischen Religion, deren Staat Teile des Haufens als Hilfstruppen gedient hatte und die die anderen auch im Durchzug durch Pannonien kennengelernt hatten, in Bildsprache und Ornamentik erhalten.

Es gibt auf der Welt keine reicheren Monumente dieser Kultur als in Cividale.

In Cividale hatten sie als Teil des alten Doms überlebt (Vorgängerbau des Gebäudes von Pietro Lombardo) und insofern auch dank des neuen Geschichtsbewusstseins der Renaissance sowie auch als Teil eines Klosters, vgl rot markiert: Tempietto Longobardo.

Es ist offener Synkretismus kultur- und (als Obrigkeit!) assimilationsbeflissener Fremder – an der Markscheide von „Orient“ und „Okzident“, von „Antike“ und „Mittelalter“ und cum grano salis: vom Imperium zur Nation.

 

Aus der Facebook-Diskussion

a) Zu einzelnen Bildern und ihrer Interpretation Diskussion u.a. mit Thomas Sandkühler, Eva Sichelschmidt, Gustav Seibt, Steve C. Ellard.

b) Zum Posting insgesamt unter anderem:

Hansjörg Küster am 4. August:
Ich habe immer Schwierigkeiten, mir so eine „Völkerwanderung“ aus logistischer Sicht vorzustellen. Da ist zu bedenken, dass die „Wandernden“ nicht nur auf ihrem Weg mit Nahrung versorgt werden musste, sondern vor allem auch in dem ersten Jahr, in dem sie sich neu irgendwo niedergelassen hatten. Da gab es doch noch keine Kornfelder? Da war auch niemand, dem man seine Vorräte stehlen konnte? Und wie sollte ein „Volk“ von der Mittelelbe wissen, wie man in Friaul Ackerbau betreibt. Aussaat- und Erntetermine waren ganz anders…

MD:
Das ist eine wirklich komplexe Frage, lieber Hansjörg Küster, zu deren Beantwortung man sich noch dazu kaum auf Quellen, abgesehen von archäologisch erschliessbaren Überresten stützen kann. Folgende Faktoren prägen meine Vorstellung:
A) der Begriff „Völkerwanderung“ impliziert ein zumindest strukturell einheitliches Geschehen, dies war es aber gewiss nicht. (Die korrespondierende Begriffsgeschichte ist selbst ein reiches empirisches Feld.) Es sind also ganz verschiedene Migrationsbewegungen mit diesem Begriff gefasst, die die Antwort auf Ihre Frage sehr unterschiedlich aussehen liessen. Sehr hilfreich bei alldem finde ich btw die Erörterung von Push- und Pullfaktoren.

Nun, im Fall der „Langobarden“ sieht es wohl so aus, dass sich in der pannonischen Ebene Haufen von notwendigerweise wehrhaften Sippen und Sippenverbänden zusammengefunden haben. Das waren sowohl Nomaden als auch geflohene/vertriebene ursprünglich Sesshafte. Ein wildes Gemisch. Nehme man einmal an, zum Zeitpunkt X hätte sich eine mühsame Balance des Schreckens ergeben. Dominierende Sippen, charismatische Figuren hätten sich ergeben, die Ressourcen vor Ort wären ungenügend geworden, Berichte eines reichen Nachbarlandes hätten sich gehäuft.

Bei einer Bedrohung wie die im 5. Jahrhundert durch die Hunnen, wenn man nur die Wahl zwischen Eingliederung, Auslöschung oder Flucht hatte, konnte es Hals über Kopf über die Pässe gehen, um sich hinter die römische Grenze zu flüchten.

Mitte des 6. Jahrhunderts ist auch ein planvolles Vorgehen denkbar: Späher und Aufklärung, Warten auf den Ernteabschluss, strategischer Feldzug. In diesem Falle kommt der gewaltige Tross aus Familien, Vorräten und vor allem Nutztieren unter dem Schutz einer Nachhut später, die erobernden vielleicht 20-30000 Kombattanten ernähren sich aus dem zu erobernden Land. Wer bleiben will, plündert dabei nur im Ausnahmefall und lässt die Bauern sfap in Ruhe, sammelt nur Kontributionen. Nach der Schneeschmelze mag der Tross gefolgt sein.
Der Erfolg eines solchen Unternehmens zieht dann in den Folgejahren unterschiedlichste Trittbrettfahrer an, die bereit und willens sind, sich für eine Teilhabe am neuen System von Wohlstand und Sicherheit unter die neue Herrschaft XY, hier: Langobarden, zu begeben.
Migration ist tatsächlich ein im physikalischen Sinne gleichsam wellenartiger Prozess. Die langfristige Integrationsbereitschaft neuer Ankömmlinge als zB „Langobarden“ war Voraussetzung des Staatswohls. Fragen der kulturellen Suprematie waren dabei aber immer virulent.

Das beschreibt, wie gesagt, nur einen, sehr unterschiedlicher und vieler Fälle von „Völkerwanderung“.

Hansjörg Küster:
(…)
So, wie Sie es beschreiben, kann das alles abgelaufen sein. So oder ähnlich ist das jedem in der Schule vermittelt worden, auch in wunderbaren Sagenbüchern, die ich als Kind verschlungen habe. Aber was sagen die Quellen eigentlich wirklich, und was sind Ideen, mit denen die Quellen erklärt werden sollen? Es stießen zwei Welten, ich nenne sie Landnutzungssysteme, aufeinander: die römische Zivilisation und das Gegenteil, die „Unzivilisation“ nördlich des Wirkungsbereichs des Imperium Romanum. Dort gab es keine zivile Infrastruktur, aber was dann? Dort „wanderte“ man. Damit umschrieb man, was außerhalb einer Zivilisation bis heute immer wieder passieren kann, nämlich dass eine Siedlung aufgegeben und eine andere gegründet wird. Ist es nicht möglicherweise nur dieses von außerhalb, aus dem römischen Reich heraus kaum verständliche Verhalten von „Barbaren“, das den Schreibenden im Imperium die Idee gab, dass Menschen „wanderten“? Und dann wurden „Völker“ daraus und Schätzungen dazu, wieviele Menschen durch die Gegend gezogen seien? Unter den Langobarden war doch keiner dazu in der Lage, Tausende von Menschen zu zählen, und dazu gab es auch keine Infrastruktur wie im römischen Reich…

MD:
(…)
Wenn Sie das so im Geschichtsunterricht gehört haben, dann waren sie gut dran, denn normalerweise ist der GU eine Nährlösung des Substantialismus, schon immer gewesen, trotz aller wissenschaftlich-didaktischen Denkgerüste. —
Ich halte es zum Teil für ein Klischee, dass im Kulturbereich der „Germanen“ dominant nomadisiert worden wäre. Augenöffend für mich waren in den vergangenen Jahren einige archäologische Ausstellungen, besonders aber die in Herne.
Interessant ist doch zB, dass wir uns die westfälischen Ebenen, entgegen mancher römischen Berichte, nicht als Urwald, sondern bereits auf als Kulturlandschaft vorstellen dürfen. Die Landschaft, die westlich von Magdeburg und im Harz erst ab dem 12. Jahrhundert durch Rodungen kultiviert worden sind, waren es zB im heutigen Ruhrgebiet bereits zu Cäsars Zeiten. —
Die Bevökerungsbewegungen waren als HIN und HER um 500 und auch davor viel komplexer als wir uns das gemeinhin vorstellen: Geiseln wurden über weite Entfernungen (Armenien!) ausgetauscht, Händler und ihre Waren zogen schon in der Bronzezeit von der schwedischen Ostsee bei zu den Pharaonen, Wissen und Lesefähigkeit wanderte. Entsprechende Experten waren überall begehrt. Ein quicklebendige und im positiven Sinne extrem mobile Welt!

Hansjörg Küster:
Danke, Wald und Offenland sind gerade auch wieder meine Themen eines neuen Buches, das ich schreibe. Der Gegensatz besteht nur in einer Landschaft wie der heutigen, in der es einen klaren Waldrand gibt und damit eine Waldfläche eindeutig definiert ist. Für andere Zeiten, in denen andere Landnutzungssysteme bestanden, können wir nicht rekonstruieren, wo Wald und wo Offenland lag. Da habe ich mich auch sehr schwer getan, als ich so eine Karte für den Diercke Atlas entwerfen musste, und im Grunde genommen ist das Resultat auch nicht zufriedenstellend genug.

MD:
Sehr interessant! (…)

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