Auf einer anderen Jahrtausendschwelle.

Die unmittelbare Begegnung mit einer Schnittstelle von christlichem Orient und Okzident als Inbegriff der ottonischen Herrschaftskultur, einer neuen Korrespondenz von Theologie und Politik (entlang eines byzantinischen Einflusses), von Christentum und Heidentum (Rehabilitation freistehender Plastiken, ritueller Gebrauch an Mariä Lichtmess), einer Schnittstelle von antikem zu karolingischem zum romanischen Kunstverständnis (Körperverständnisse) und einer Verschiebung öffentlichen weiblichen Rollenverständnisses im christlichen Abendland (Frauen als Herrscherfiguren, sogar an der Spitze des Reiches)  all diese Schichtungen, Verknüpfungen, Rezeptionen materialisieren sich in dieser Figur.

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Geformtes Weltwissen und Weltverständnis aus dem Jahre 980 n.Chr., auf 74 cm Höhe.

Geheimnisvoll ist sie nicht, sie lässt sich lesen wie ein Buch voller Fussnoten, wie ein Blog mit dicht und sinnträchtig gelegten Hyperlinks.

Wundertätig erscheint sie mir dennoch, der magische Raum der blickenden, also aktiv sendenden Augen aus Zellenschmelz, des präsentierten (von ihr) und zugleich gesegneten (von ihm) Universums erzeugt eine kognitive Gravitation, die diejenige der sorgsam und naturalistisch ponderierten Körper vergessen lässt. Die Transzendenz des Verweisens wird hierdurch aufgeführt, die Augen der Madonna laden den Betrachter zu diesem Wagnis ein, das sie selbst umfassen und zugleich pfortenhaft öffnen.

Umwerfend der historische Kontext der Entstehung – wenn man hier Otto III und Theophanu mitdenkt, wofür der Historiker starken Anlass findet.

Ein Weltwunder, 50 Meter von der Einkaufsmeile.

Wie heisst diese Maria? Eine Essener Handschrift, die man auf ca. 1370 datiert, spricht von „dat gulden bild onser vrouwen“. Das gefällt mir besser als alle späteren Bezeichnungen.

Vorübergehende Ignoranz schafft Raum für Lernen. Zwanzig Jahre im Ruhrgebiet gewohnt, hundertmal in Essen gewesen, dieses hier verkannt, übersehen, links liegen gelassen. Dann vermag‘s doch noch wie ein Schlag zu treffen, das, besser: sie.

Vertieft nachzulesen in diesem Büchlein von Frank Fehrenbach (1996). Gutes Buch. Siehe http://d-nb.info/946311994

Ich danke meiner grossen Tochter, durch deren Studium ich das alles kürzlich sehen und verstehen durfte.

Hier findet man zu ihr:

Ein Gedanke zu “Dat Gulden Bild Onser Vrouwen

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