In Westberlin war ich zum ersten Mal am 10. Juni 1990. Am 1. August, meine Entlassung aus dem rückwirkend in Anspruch genommenen Zivildienst stand für den 31. Juli an, wollte ich endlich ins gelobte Irland, von dem ich schon seit Jahren träumte.
Die von mir mitorganisierten „Irish Spring Parties“ der FDJ-Grundorganisation der EOS genossen immerhin einen Ruf, der bis heute zu tragen vermag. Dazu immer mal Vorträge zur irischen Geschichte. Die Musik von Marek Hoehn, Ulrike und Michael. Aber das ist alles eine eigene Geschichte, die sich kontinuierlich über den grossen Bruch zieht, den es hierfür nicht gab. Die vier Wochen im Sommer 1990 mit den Freunden kreuz und quer durch Irland gehören jedenfalls zu den kostbaren Jugenderinnerungen.
Also, der 10. Juni. Tags zuvor gehörte ich zu den 10-12 Mitbegründer*innen der „Gesellschaft der Freunde Irlands in der DDR“ der „Liga für Völkerfreundschaft“.
Einige kannte ich schon ein paar Jahre durch brieflichen Austausch oder weil man zu Vorträgen nach Delitzsch gekommen war. Übrigens auch etwas, das ich dankbar in meiner Erinnerung halte: wie aufgeschlossen und freundlich die Wissenschaftler*innen auf meine Schüleranfragen aus der Provinz reagiert hatten, wie manche von ihnen ohne Honorar und Spesenerstattung zu uns in den „Jugendklub Nord“ gekommen waren. Eine lange Existenz war diesem liebenswerten Verbund von Freunden Irlands in der DDR jedenfalls nicht beschieden. Aber man kann sagen: dessen offizielle Gründung erfolgt eben erst kurz vor seinem Ende.
Ich musste nach Neukölln ins dortige Bezirksamt, weil mir vom Hörensagen (das damalige Internet) bekannt wurde, dass dort DDR-Bürger unter Vorlage ihrer Personaldokumente, eines Lichtbilds und der Gepurdsurguhnde innerhalb von wenigen Stunden einen „westdeutschen“ (das sagte man damals übrigens schon, nicht aber „Ostdeutschland“) Reisepass erhalten würden, ohne Anmeldung, quasi auf Zuruf. Da ich noch immer unsicher war, ob ich mit meinem DDR-Personaldokument wirklich würde über die Grenzen gelassen werde, ging ich auf Nummer Sicher und besorgte mir also dieses Dokument. Es ging wirklich alles wahnsinnig bezaubernd einfach.
Es brachte ziemlich viel in mir durcheinander, erinnere ich mich, dass sich dieses Neuköllner Bezirksamt in der Karl-Marx-Strasse befand. In der Wartezeit ging ich dort in einen wunderbaren alten Buchladen, vollgestopft mit antiquarischen Büchern und kaufte mir für 5 Deutsche Mark eine bibliophile Ausgabe des Buches der Lieder.
Als ich dann auf so durch und durch pragmatische Weise zusätzlich auch Westdeutscher geworden war, verspürte ich als erstes Hunger. Ich hatte noch nie Fast Food gegessen, also ging ich auf einen Burger King in der Karl-Marx-Strasse zu. Drei Stufen führten hinauf, es war ein Eckhaus, der Eingang genau auf der Ecke. Meine Bewegung dorthin scheint sehr zielgerichtet gewesen zu sein, denn ohne dass ich herausposaunt hätte: ICH GEHE JETZT ENDLICH EINMAL EINEN HÄMMBÖRGER ESSEN!, muss Ziel und Zweck meiner Bewegung doch erkennbar gewesen sein. Oder lauerte man auf Vektoren wie mich?
Wie dem auch gewesen sein mag: Kurz vor den besagten drei Stufen, die ich innerlich schon längst erklommen hatte, mit den Gedanken den Schritten und dem eigenen Körper vorauseilend, stellte sich mir der Inbegriff eines jungen, gleichwohl im Vergleich zu mir etwas älteren Mannes vom Stamme der Autonomen, jedenfalls trug er das entsprechende Kostüm, mir in den Weg, der ich ebenfalls ein Kostüm trug, nämlich das des naiven DDR-Provinzheinis.
Er erhob seinen Zeigefinger und sagte: „Willst Du dort wirklich hinein?“
Ich bestätigte das wahrheitsgemäss.
Er: „Denkst Du denn auch mal an den Regenwald?!“
Ich zögerte grübelnd.
„Wenn Du dort etwas isst, stirbt wieder ein Stück Regenwald, das gierige Grossfarmer und amerikanische Ausbeuterfirmen abholzen, um dort ihre Rinder für DEINEN Hämmbörger zu mästen.“
Ich war betroffen. Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. Meine Ohren färbten sich etwas rot, ich fühlte mich ertappt. Stumm reichte ich ihm die Hand und nahm den nächsten Bus zur GÜST in Schönefeld. Unterwegs fiel mir noch siedendheiss ein, und ich vergewisserte mich mit einem Blick ins Portemonnaie, dass ich sowieso kein Westgeld mehr übrig gehabt hätte.
Ich hoffe, dieser kluge Mann steht noch heute dort. Beim nächsten Berlinbesuch schaue ich nach. Versprochen.
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