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hielten das für schlimmer, was wirklich eingetreten war.

Am Beginn und am Ende meines Tages lese ich gern die alten Historiographen (ausser Anna Komnena kenne ich keine Historikerin in der alten Geschichte). Seit einigen Wochen lese ich Tacitus, erst Agricola und Germania, dann die Annalen, deren Lektüre sich noch heute Abend bedauerlicherweise abschliessen wird, dann kommen nochmals die Historien mit viel Aufmerksamkeit. Vorher war Cassius Dio meine Freizeitlektüre usw. Im Studium hatte ich vor allem die Griechen und etwas Livius gelesen, Thukydides blieb mir dauerhaft praktische Referenz. Aber es war doch links und rechts davon nur „Übersichtswissen“, schubladisierte Namen, Positionen, Sprüche.

„Sina ira et studio“ z.B. kenn jeder, dieser Wortgruppe dann gleich anfangs der Annalen (siehe Bild) im fliessenden Kontext, lakonisch hingetropft, zu begegnen, das rührt den allerdings auch durchaus rührungswilligen Leser, der ich bin.

Corvey-Abschrift, jetzt in der Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz, herrlicherweise digitalisiert. http://teca.bmlonline.it/ImageViewer/servlet/ImageViewer?idr=TECA0000806171&keyworks=Tacitus#page/24/mode/2up

Dieses Sentiment verstärkt sich dann mit jeder Seite, weil es offenkundig ist, wie Publius Cornelius mit dieser absolut ernst gemeinten Maxime ringt, wenn er von Begebenheiten erzählt, die nur ein paar Jahrzehnte zurückliegen und die in seine Gegenwart mal nur etwas, mal aber auch gefährlich hineinwirkten. Deutlicher wird das noch in den Historien. So ganz durchsichtig war ihm vielleicht seine Verstricktheit in die Zeitläufte aber doch nicht, wie sich am Rest des Diktums erkennen lässt, das quasi niemals mitzitiert wird:

„zu denen es mit völlig an Gründen fehlt / quorum causas procul habeo.“ Tac, Ann, I, 1

Was ich, man entschuldige meinen Dilletantismus, aber vielleicht auch etwas anders, nämlich wörtlicher als Horneffer übersetzen würde, nämlich so, dass er zu so etwas Gründe zu haben zu weit oder weit genug entfernt ist. Es liegt ihm also fern, meint er. Er reklamiert für sich, eben nicht mehr Teil der Geschichte zu sein, die er erzählt. Das ist bei den Historien sicher nicht richtig, bei den Annales aber auch nicht. Er macht das selbst immer wieder deutlich, indem er mündliche Überlieferung, wir würden heute sagen: Oral History, in seine Quellenbasis einbezieht. Mit Rothfels und Assmann ist es die Epoche der Mitlebenden und ihre persönliche beglaubigte Erinnerung, das kommunikative Gedächtnis, was Tacitus Forschungsraum bestimmt (ganz anders als in den ersten Teilen der Schriften bei Livius und Dio z.B.).

Gegenwartsvorgeschichte seiner Zeit schreibt der Tacitus, und man sieht daran, wie unsinnig oftmals die traditionellen disziplinären Sektionen der heutigen Geschichtswissenschaft sind. Tacitus, Sueton, Thukydides etc sind lupenreine Zeithistoriker, und es ist für mich – als promovierten Zeithistoriker, immer rätselhafter, warum diese Archetypen der Zeitgeschichte im zeitgeschichtlichen Studium keine herausragende Rolle spielen. Aber ich schweife etwas ab. Der beredte Schweigsame, ein homo novus aus der Provinz, war Zeithistoriker avant la lettre und par excellence, dazu aber noch aktiver Staatsmann. Heute kaum noch vorstellbar, der Kollege Rödder bringt es vielleicht doch noch dahin. Wie Tacitus es allerdings dennoch vermag, seine Maxime des Sineiraetstudio in geschriebene Praxis zu überführen, das mag noch jeder/m heutigen Zeithistoriker:in zum leuchtenden Vorbild gereichen.

  • Wie er z.B. in Zweifelsfällen der Überlieferung divergente Perspektiven explizit gegenüberstellt und sich für die seiner Meinung nach am besten begründete entscheidet.
  • Wie er auf die kleinen Details der Überlieferung achtet, auch scheinbar Nebensächliches erwähnt oder erzählt und auf diese Weise detaillierte Mosaike der vier Regime von Tiberius, Germanicus, Claudius und Nero kombiniert.
  • Wie er die strukturelle Dynamik dieser vier Regime durchsichtig macht und die Faktoren und Akteure, die zu den offenkundigen Umschwüngen führten. Wie er Stereoypen zu vermeiden sucht, Handlungs- und Verhaltensoptionen aus der erzählten vergangenen Gegenwart denkt.
  • Wie er sich auch gern selbst dementiert, ihm also (nicht ganz so sina ira) Attribute zu Claudius in den Text rutschen, die dessen Unterlegenheit gegenüber Messalina oder Aggripina geschuldet sind, dann aber auch Entscheide und Senatsreden von Claudius anführt oder sogar zitiert, die dem Leser noch 2000 Jahre später klug und reflektiert erscheinen.

Also, vielleicht ist es nicht ganz zu verbergen, ich finde insbesondere die Annalen sind grossartige Geschichtsschreibung. Sie stehen weit über einem Grossteil des Auswurfs heutiger historischer Sachbücher der Publikumsverlage und auch weit über den sehr oft sinnlos in Buchdeckel gezwängten Qualifikationsschriften, die als Digitalpublikation auf einem UniServer der Spezialforschung viel bessere Dienste leisten könnten. Als Abend- und Morgenlektüre sind diese Geschichtsbücher der Alten niemals so langweilig wie mittelmässige Romane, und sie vermögen immer von Neuem zu überraschen, und meine kulturanthropologische Perspektive zu erweitern. Alles so nah in seiner Ferne. Heute morgen nun – das ist das Anlass dieses Posts – bin ich auf einen Gedanken bei Tacitus gestossen, den ich beinahe überlesen hätte, würde ich nicht so ein elender Langsamleser sein.

„Senatus et primores in incerto erant, procul an coram atrocior haberetur; dehinc, quae natura magnis timoribus, deterius credebant quod evenerat.“ Tac, Ann, XV, 36.

Sie „waren sich nicht klar darüber, ob er fern oder gegenwärtig schrecklicher sei. Danach hielten sie, wie es im Wesen großer Ängste liegt, das für schlimmer, was wirklich eingetreten war.“ (Übersetzung A. Horneffer)

Das Wesen grosser Ängste.

Finden wir darin nicht ein Erklärung für die gesellschaftlichen und politischen Umtriebe während der gegenwärtigen Pandemie?

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