Wann war das?

… flüchtige Elektrik nur, in meinem Hirn abgelagert wie ein Schuhkarton mit irgendwas und unter vielen anderen in diesen holzlattenvergitterten Esstrichparzellen, auf „dem Boden“ wie es in meiner Kindheit bedrohlich klang, dessen schwache Beleuchtung mit schwarzen Hartplaste-Drehschaltern aus dem Baujahr des Wohnblocks herbeigerufen werden konnte, mit Gefühl.

Winters klirrend kalt, sommers brütend warm, als ob dieser „Boden“ das wetternde Draussen nicht abhalten, sondern vielmehr gefiltert in sich steigern sollte, deklinieren nach unbekannten Tabellen, gnädigerweise einen Faktor, das Wasser von weissgottwoher, völlig aussen vor lassend.

Der Wind pfiff, säuselte, rüttelte, pochte am und durchs Gebälk mit den aufgelegten, übereinander gefügten, schwach vermörtelten Ziegeln, oder er schwieg demonstrativ, breitete drückende Stille aus, machte die Schicht anderer zufälliger leiser Geräusche hörbar, die er sonst aus Gründen übertönte, die vielleicht gar keine waren. Jedes Kind wusste allerdings, dass es diese Geräusche da oben gab, und es forschte angestrengt nach, die Ohren gespitzt, die Nüstern leicht gebläht … im Grunde schon auf der letzten Halbtreppe, die von den Wohnbereichen zur Bodentür führte. Das Herz war beklommen, bevor man diesen dunklen, wenig abgegriffenen groben Schlüssel in das Schlüsselloch dieser grauen Bodentür steckte.

Das Bodentürschloss zu bedienen war für mich schwierig, erinnere ich mich. Der Bart des Schlüssels musste in einen genau abgemessenen Abstand zwischen Schlossein- und -ausgang zu drehen versucht werden. Meine Technik war, meinen kleines Däumchen parallel zum Halm zu legen, millimeterweise nachzugeben, während ich mit der Vertiefung des kleinen Handtellers vorsichtig nachschob, dabei immer wieder die Reite zu drehen versuchte.

Das Herz klopfte dabei, auch deshalb, weil schon die die kleine Plattform vor der Bodentür, auf die die Halbtreppe oberhalb des Wohnbereichs führte, einen anderen Duft hatte als der Rest des Hauses. Kaum noch etwas von den samstäglichen Kohl-Kartoffel-Fleisch-Geruchs-Variationen, kombiniert mit den Ausdünstungen des vor der Tür aufgereihten und allesamt sehr lange in Gebrauch befindlichen Schuhwerks, die wegen ihrer jeweiligen und für den fremden Besucher völlig unerforschlichen Eigenart dem kleinen Jungen auch blind hätten jede Tür richtig finden lassen. In der Nähe des „Bodens“ roch es anders, die Bodentür hatte eine andere Temperatur. Wie genau es anders roch? Schauderhaft.

Bodengänge waren, wenn mich die Erinnerung nicht trügt, Wochenendsache. Wäsche wurde jedenfalls von meinen Eltern am schon arbeitsfreien Samstagvormittag gewaschen, wir befinden uns Mitte der 70er Jahre, wenn meine deutlich ältere Schwester und ich noch bis Mittag die Schulbank drückten zur nahen Schule gingen. „Aufgehängt“ wurde dann samstags, meist unter Assistenz des einen oder anderen Kindes, was anfangs meines überhaupt Erinnerlichen noch Aushandlungen zur Folge hatte, dann aber bald allein mein Geschäft wurde.

Das pünktliche Zureichen der Holzklammern sparte der Mutter dutzendfaches Bücken. Mit ihr ging ich ganz gern nach dort droben, eifrig achtete ich darauf, dass ich ihr immer im GENAU richtigen Moment die Klammern weit entgegenstreckte; dieses Hand-in-Hand-Arbeiten gab mir Bedeutung, schenkte mir ihre kurzzeitkollegiale Anerkennung. Und auf Geschwindigkeit kam es an!, niemand blieb bei Kälte, Hitze, schwachem Licht und flüsternden Projektionen dort länger als unbedingt nötig. Dabei liessen sich, die konzentrierte Zusammenarbeit nicht störend, auch gemeinsame Spekulationen anstellen, zum Beispiel gab uns das Partizip des Verbes ‚hängen‘ in seiner vielfältigen Bedeutung und sogar meine Mutter verunsichernden Grammatik einen unerschöpflichen Vorrat des gruselnden Nachdenkens. Wie die Dinge sprachlich miteinander verbunden sind, was man alles meinen konnte, was und warum man alles möglich aufhängte. Auf dem ehemaligen Galgenberg der kleinen Stadt hatte man 1859 seinen neuen Bahnhof an der Schnellbahnstrecke errichtet. Dem Kinde schon floss alles ineinander. Und in vielen dieser Häuser kannte jemand irgendwen, der dieses Vorhandensein von stabilen Haken an Balken, Wäscheleinen, Einsamkeit, dieses Verbs und der dortigen Exterritorialität auch für seinen persönlichen Abschied genutzt hatte.

Wäscheleinen durchzogen die Allmende den gemeinschaftlich genutzten Bereich dieses Bodens. In kindlicher Sicht irgendwo hoch oben wie Kondensstreifen den Bodenhimmel strukturierend, später nach dem Hochschiessen des Grünlings zwischen 12 und 15 dann gefühlt auf Augenhöhe, zum gebückten Gehen zwingend, wenn er, der Spross, von der Zugangstür zur Familienparzelle vordringen wollte, wenn mal, selten, etwas zu holen war. Dabei war – da im Haus der acht Parteien mit Kindern immer gewaschen wurde – durch die feuchte Wäsche der Nachbarn hindurchzuschlingern. Wer weiss heute noch, wie die Unterwäsche aller Nachbarn aussieht? Ich wollte das damals niemals wissen, es berührte mein Schamgefühl. Als Kind musste ich mich nur leicht bücken, um dieser hängenden Feuchtigkeit auszuweichen, der Grünling tat sich schwerer. Sich am Rande des schrägen Daches des Wohnblocks entlangzudrücken, das war nicht möglich, weil die auslaufenden Schrägen zur Ablagerung von Zivilisation genutzt wurden. Auf Lücken im Wäscheballett war zu spekulieren, schlängelnd zwischen den Reihen entlang, und wenn eine Partie Schlüpfer kam, dann war die nächste Reihe gewonnen.

Die blanken, ungehobelten schmalen Balken, die die Last der Dachziegel trugen, umrahmten einen grundsätzlich dunklen Dreiecksraum, ein düsteres Prisma voller Geister, die aus jedem der gelagerten Überresthaufen in den Familienparzellen hervorlugten, hervorkrochen, erwachten und sich rührten, die die Wäscheleinenallmende umgaben. Ich fühlte mich in dieser Ordentlichkeit umstellt von Unerledigtem, Unabgetanem. Es gab nur wenige kleine Oberlichter, für das Kind unerreichbar, der Schössling vermochte auf Zehenspitzen hinauszusehen auf den Rand der kleinen Stadt. Zu öffnen durch das Aushebeln eines gelochten, verstaubten, oft mit Spinnweben überzogenen Zinkhebels, quietschend gab die wackelige, einfach verglaste, schmutzige Luke nach aussen nach, man hob sie auf der eine Seite aus dem Dach heraus ins Freie. Draussen war, was man von drinnen nur ahnen konnte, dessen vermittelte Wirkungen sich nach innen nur verstärkt und um wichtige Facetten beraubt … zeigten, fühlen liessen, schattenhaft ihre Gegenwart lebten.

Eine Labsal, diese Vogelperspektive! Lange, über flache Felder hinweg bis ins nächste Beerendorf, dann eingeengt durch neuere Neubaublocks, die inzwischen übrigens alle wieder „zurückgebaut“ worden sind, sie haben kaum 30 Jahre gestanden; am Stadtrand macht sich der urbanhistorische Tidenhub bemerkbar. Die lieben Alten warten noch darauf, bis es auch ihren Block trifft, von der sozialistischen Wohngemeinschaft mit den vielen gemeinsamen Feiern, Skatabenden, den wie ein basso continuo den Alltag strukturierenden Brunnengesprächen der Frauen, Subbotniks und gegenseitigen im Mikrohorizont leidenschaftlich praktizierten Angedenken war ohnehin kaum noch etwas da. Der alte Schnitter hat reichlich abgeräumt.

Eigentlich wollte ich über Maikäfer schreiben, ich weiss nicht, wie ich auf den Boden gekommen bin. Die Erinnerungen drängeln sich nicht in ordentlicher Schlange, sondern als militante Traube vor einem rajasthanischen Lokalbus. Man lässt ein, wer’s geschafft hat. Hinaus kann sowieso keiner mehr.

Abb. 1: Lungenheilstätte Grabowsee: Dachboden (c) 2016 Kevin Hackert via Flickr.

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