Innerhalb von 5 Wochen habe ich zufälligerweise zweimal die gleiche Zugabe eines Pianisten gehört: Beethoven Op. 81a, Les Adieux. Einmal von Krystian Zimerman im Dezember, einmal von Jan Lisiecki heute Abend. Bei Zimerman war ich tief berührt, heute sass ich nur distanziert dabei.

Das lag gewiss am differenten Ausdrucksvermögen der beiden Künstler, worin sich aber keinesfalls zuerst der blosse Altersunterschied zeigte, sondern eigentlich Biographie und die Radikalität des künstlerischen Selbstanspruchs.

Viel mehr lag es aber, und ich darf den Faktor meiner Person herausrechnen, weil ich mich musikalisch stets dankbar begeistern lasse, also, es lag, meine ich, am Programm davor. Und an der speziellen Interpretation natürlich auch, dazu am Schluss mehr.
Im Falle von Zimerman hat Rattle als Dirigent ein thematisches Programm entfaltet, indem er Strauss‘ Metamorphosen und Bernsteins seltener gespielte 2. Sinfonie gegenübergestellt hat. Beides Werke, die von der Kriegserfahrung geprägt in der Transformations- und Zusammenbruchszeit 1945ff. entstanden sind, mit ganz gegensätzlichem Akzent und musiksprachlichen Mustern. Dazwischen – wie zur kulturanthropologischen Versöhnung – zwei Akzente aus Wagners Tristan und Isolde. Die ewige Liebe als Brücke zwischen den gähnend tief gewordenen kulturellen und politischen Gräben des Westens in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Es gab da also sehr viel, fast zu viel Nachzudenken beim Hören. Das war beim Bernstein leichter als zuvor bei Strauss, diese Musik, deren erster Teil zuerst in Tel Aviv aufgeführt worden war, verlangt keine Immersion, kein Aufgehen in ihr, im Gegenteil sie verweigert sich geradezu. Ein extrovertiertes Stück, ganz Bernsteinianisch. Völlig anders natürlich als das durchdrungene komplexe Stück von Strauss. Wenn es ums blosse Gefallen ginge, ist es klar, was ich zuvor auch privat gehört habe.

Die von Rattle erzeugte Spannung dieser Antipoden, diese Sichtbarmachung der kulturellen Einbettung von Musikidee und -komposition hat mir aber eins für immer die Augen geöffnet. Kann man plötzlich Wut haben auf ein Musikstück von Strauss? Ja, kann man. Zimerman nun hat an diesem Abend nur das Soloklavier von Bernstein gespielt (dazu gibt es eine schöne Geschichte), und er tat das wie ein Fremdenführer, selbst intim vertraut, zu Touristen sprechend.

Heute dagegen war für mich blossen Musikliebhaber kein Gedanke zu erkennen: Chopin – Schumann – Ravel – Rachmaninov – Chopin – Chopin – Zugabe. Sicher, alles ganz gut gespielt, soweit ich das beurteilen kann, man bewundert die Virtuosität des jungen Virtuosen, verliert sich zeitweise und unvermeidlich in einem Chopin-Stück. Und man versucht, notgedrungen und paradox gegen diesen Genuss gerichtet, den Überblick zu behalten. Der Schumann klingt anfangs nach Chopin, der Rachmaninow schmeckt noch nach Ravel. Auf der Bühne verausgabt sich der Künstler.

Deutlich wie selten habe ich heute verstanden, dass die Sprache der Musik nicht nur Floskel sein muss, dass aber der Singular völlig falsch ist. Das Programm des Pianisten, dem ich eine grosse Zukunft wünsche, war heute so, als müsste ein Einzelner zuerst ein Gedicht von Puschkin auf Russisch deklamieren, dann ein Gedicht von Mickiewicz auf Polnisch, dann ein Gedicht von George auf Deutsch usw. Das kann eigentlich nicht gut gehen. Solopiano ist gesprochene Musik, das bringt die Differenz deutlich hervor. Ich weiss natürlich, dass solche Programmzusammenstellungen üblich sind, wie oft zuvor habe ich das schon erlebt. Heute aber war ich enttäuscht, kein Gedanke, nirgends. Zuviel des Anspruchs? Vielleicht nicht.

Offenbar wird das im Vergleich der Zugaben. Beide spielen Les Adieux. Lisiecki gibt es brav wie ein Musikschüler beim Vorspiel und man versteht einfach nicht, was das jetzt mit ChopinSchumannRachmaninowRavel zu tun haben soll, ausser natürlich, dass sich der Herr Künstler zu verabschieden gedenkt.

Zimerman spielt Les Adieux nach Bernsteins 2., nur ein paar Takte, die Beethoven zu Strauss‘ und Bernsteins (und auch Isoldes!) so verschiedenartiger und doch substantiell gleicher Wehmut und Abschiedstrauer sofort in Beziehung bringt. Er setzt der 1000-mal gehörten Sonate in diesem Kontext geradezu ein Licht auf. Und auch mir.

Aber nur ein paar Takte, dann transformiert er Beethovens Stück plötzlich in … „Happy Birthday to you“. Und es war vorbei mit meiner Contenance, ehrlich.
(Bernstein wird dieses Jahr 100 Jahre, er hatte Zimerman in den frühen 1980ern gebeten, mit diesem Stück 2018 auf Tournee zu gehen.)

tl;dr: Ohne Kontext ist alles nichts. Auch kein Genuss.

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(ursprünglich nicht-öffentlich auf Facebook am 1. Februar 2018)

Veröffentlicht in Musik

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