Die Sozialen Medien entwickeln sich mit dem Fortschreiten der Zeit notwendigerweise auch zu digitalen Friedhöfen. Walls werden zu neuartigen Grabsteinen. An die verstorbenen Friends werden wir durch aufpoppende automatische Geburtstagsfeatures erinnert, solange es dieses Programm geben wird. Wenn niemand mehr lebt, die oder der diejenigen noch kennen konnte, an die erinnert werden soll, dann entsteht so etwas wie ein System wechselseitiger leerlaufender Erinnerungen, ein hohles Gefäss der Pietät, in dem nur noch digitale Geister spuken.

Das wird dem Unternehmen zunehmend zu einer Belastung werden, denn das auflaufende inaktive und daher für Werbekunden uninteressante Speicher- und damit Energievolumen, das nur zur Aufrechterhaltung der Daten aufgewendet werden muss, nimmt (nicht ganz proportional) zum Sterben der Nutzer*innen zu. Es wird daher nur eine Frage der Zeit sein, wann FB seine Geschäftsbedingungen an die kommunaler Friedhofsverwaltungen anpasst: Erben also entscheiden müssen, ob sie die Accounts und Walls von Toten befristet aufrechterhalten wollen und dafür bereit sind, eine Gebühr zu entrichten.

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Abb. 2

Wie auf Friedhöfen muss dann nach 10 Jahren neu entschieden werden und irgendwann wird jedes Grab beseitigt, wenn die Kommune nicht – angesichts einer inzwischen erwiesenen Bedeutung der*s Verstorbenen – entscheidet, das Grab zu einer öffentlich finanzierten Gedenkstätte zu machen. Das passiert allerdings extrem selten, ich kenne eigentlich keinen Fall, denkbar wäre es zumindest. Auf Facebook und anderen digitalen Plattformen tritt erschwerend hinzu, dass „die Kommune“ hier per se eine globale ist, mithin die Hürde der auf ewig gestellten Bedeutungszuweisung eine schwieriger zu nehmende ist als z.B. auf dem sich zusehends leerenden (übrigens wunderschönen) Delitzscher Gemeindefriedhof. Die Timeline als digitale Gemeinde wäre ein brauchbarer Ersatz, aber diese ist ebenso individuell wie die Gestaltung des eigenen Accounts, sie bildet kein mögliches Elektorat für eine solche Kostenträgerschaft. Es werden also irgendwann fast alle Accounts abgeschaltet, Texte, Videos, Bilder und Interaktionen gelöscht werden, sowohl die öffentlichen als auch die Backchannels.
Ob dies ein Verlust ist oder nicht, oder wie gravierend der Verlust zu taxieren wäre, hängt selbstverständlich ganz von der tausendfältig differenten Struktur der Accounts ab, der Art unser aller differenten Nutzung.

Viele Accounts und ihr Material werden an sich nur eine familiengeschichtliche Bedeutung behalten, insofern denn so etwas wie Familie als identifikatorische Gruppeneinheit Bestand langfristig behalten werden wird. Wenn man sich heutige Scheidungsraten, die enorme Binnenfernmigration, die Entwicklung der Fortpflanzungstechnik und den Anteil von Singlehaushalten an den grossen Stadtbevölkerungen, aber auch die allgemein sinkende Bereitschaft für genetische Zufallsgemeinschaften dauernde Rücksicht, Verantwortung und Aufmerksamkeit aufzubringen, ansieht, dann wird zwar deutlich, warum heute Familiengeschichte mit den dafür bereitstehenden digitalen Tools so starken Aufwind hat, gleichzeitig ist dies schon selbst ein Anzeichen von Kompensation allseits wahrnehmbarer Auflösung noch erinnerbarer Zwangsgemeinschaftlichkeit. Gräber werden gar nicht mehr angelegt, die Asche der Verstorbenen aufwandsniedrig entsorgt. Ein familiengeschichtlicher Bedarf an den Informationen von Facebookaccounts (dann längst) Verstorbener wird langfristig sinken, andere, neue Formen von identifikatorischer Kleinguppenzugehörigkeit werden sich weiterentwickeln und weiterentwickelt haben. Familiengeschichte ist ein Wetterlicht. (Und wie immer gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel.)

Es bleiben also für meine Problematisierung vor allem die Accounts derjenigen übrig, denen qua Amt, Werk, persönliche Exemplarität oder schnödem Zufall später eine gesellschaftliche Bedeutung zugemessen werden wird, was sich von heute aus allerdings nur schwer prognostizieren lässt, weshalb es sich dabei eben doch um keine abgemessene Gruppe von Accounts handelt, sondern um potentiell und tatsächlich alle.

Für Historiker*innen, die sich gerne auch in das Arbeitsschicksal ihrer späten Nachfolger*innen hineindenken, ist diese Vorstellung erschreckend angesichts der Tatsache, wie aufschlussreich des auf Facebook vorn und hinten exponierten Materials ist. Dies wird in einem Zeitalter, in dem detaillierte und skrupulöse Texteditionen in grosser Blüte stehen, besonders deutlich. Denn nicht nur alltagsgeschichtliches Quellenmaterial der Vielen ginge verloren, sondern auch originäres Material von Autor*innen und zum Verständnis ihrer Texte notwendige Vorstufen, Skizzen, Testfelder des Denkens und des Austauschs. Oder die vertrauliche Kommunikation von Politiker*innen usw. usf.

Dieses Problem habe ich bisher nur am Beispiel von Facebook diskutiert, weil mir dort der langfristige Verlust aufgrund des zur Ausführlichkeit und zur substantiellen Interaktion einladenden Formats besonders deutlich vor Augen steht. Das Problem liesse sich modifiziert für jeden anderen Social-Media-Kanal diskutieren, wenn man nur bereit ist, sich auf das Experiment eines gleichsam post-mortalen Denkens einzulassen. Historiker*innen können jedenfalls ihre professionell weite Zeitachse antizipatorisch auch um 180 Grad wenden.

Die Problematik des Datenverlustes kann natürlich auch sehr viel früher, noch während unser aller Lebensspanne eintreten. Das Beispiel Storify steht jeder*m vor Augen. Die Vorhaltung der nötigen Ressourcen zur Datenerhaltung ist eine betriebswirtschaftliche Entscheidung, die auf einem Vertrag mit der*m User basiert via Akzeptanz der Geschäftsordnung. Wenn der Partner dieses Geschäfts ökonomisch liquidiert wird, so wie der Bäcker um die Ecke, gibt es keine staatliche Gewährleistung, die dessen Datenerhaltung substituieren würde. Man mag das bei solchen Börsenriesen wie Facebook für unwahrscheinlich halten, aber deren Geschäftsmodelle befinden sich in permanenter globaler Konkurrenzprüfung. So schnell wie der börslich gebuchte Wertgewinn in den vergangenen 15 Jahren gestiegen sein mag, noch schneller kann er jederzeit wieder sinken. Wer finanziert dann die gewaltigen Serverparks? Wer tritt in den Vertrag eines womöglich insolvent gefallenen Geschäftspartners ein?

Was kann man tun als Einzelne*r und als interessierte Gesellschaft?

Letzteres wäre einfach zu beantworten und gleichzeitig eitel zu hoffen: Staatlicherseits, vulgo: mit Steuermitteln (national? EU-weit?) könnte oder sollte ein doppelter Ort, zugleich Repositorium und Archiv, eingerichtet werden, in den hinein jede Privatperson und jede Institution ihren Kommunikationsverkehr auf Wunsch live spiegeln oder später einspeisen kann. Dies wäre ein gewaltiges Unternehmen, allein schon wegen der Menge der zu erwartenden Daten, aber auch wegen der nötigen Gewährleistung des Datenschutzes, des individuellen Datenzugangs, der rechtlichen Regelung bzgl. Erblassender und Erbinnen / Erben, eines langfristig haltbaren Datenstandards (auch bzgl. der Metadaten). Zudem müsste dieses Haus der privaten Daten, wie ich es einmal nennen möchte, mindestens doppelt, besser aber drei- oder vierfach existieren. Das wäre mein Wunschzettel. Angesichts der vorherrschenden digitalpolitischen Misere auf Ebene von EU und Einzelstaaten glaube ich aber nicht, dass es eine solche Lösung in den kommenden 30 Jahren geben wird.

Was kann also der oder die Einzelne tun?

  1. Komplettdownload: Facebook und Twitter bieten den Download individueller Archive an. Dann wären die Daten immerhin auch erst einmal beim Betreffenden selbst gesichert. Vollkommen offen ist allerdings die Frage, wie eine solche Datei zuverlässig und praktisch wird vererbt werden können, ob es dafür Erbinteressierte geben wird und wie stabil das Datenformat ist. Das individuelle Twitterarchiv z.B. läuft in eine herkömmliche Excel-Datei.[1] Ob diese in 25 Jahren noch abruf- und reformatierbar sein wird, bleibt ungewiss. Ich jedenfalls hatte kürzlich mit einer Word-Datei von 1996 erhebliche Schwierigkeiten. Für schon jetzt bedeutende Dichter*innen oder Publizist*innen stellt sich die Frage, inwieweit die Datenpräservation am Literaturarchiv Marbach gediehen ist angesichts des Innovationstempos der digitalen Tools. Schliesslich sei hier noch auf ein weiteres Problem hingewiesen: Die heruntergeladenen Archive versammeln buchstäblich jeden digitalen Akt, das viele Bewahrenswerte ebenso wie das unermesslich viele Verzichtbare. Die einzelnen digitalen Akte sind nicht hierarchisiert, alles steht gleichberechtigt neben allem. Ein unermesslich grosser Wust an 1 und 0, der über ein ganzes Social-Media-Leben zusammenkommen muss.
  2. Filternde Diversifikation der Datenaufbewahrung: Was bleibt wäre der zielgerichtet, bewusste Transfer wichtiger Texte – also Postings mit relevanten Diskussionsauszügen bei Facebook oder Threads, gemischt oder nicht, von Twitter (wie es ja Storify möglich gemacht hatte) – … also der Transfer in einen persönlichen Filtercontainer wie bspw einen Blog, der ja bekanntlich auch auf „privat“ gestellt werden kann. Grundsätzlich stellen sich bei einem gut gefilterten Blog die gleichen Ewigkeitsprobleme wie bei anderen Social-Media-Formaten. Aber es läge hier eben ein Filterungsschritt dazwischen, der die Datenmenge deutlich verringert. Die Position des korrespondierenden Servers, die Sicherheitsstandards kann man frei wählen, die Übergabe an mögliche Erben erscheint plausibler.
  3. Analoge Sicherung: Kaum etwas sichert auch heute eine Datenbestand zuverlässiger als hochwertiges, möglichst säurefreies Papier und ein guter Tintendruck. Ich sehe immer wieder Texte in den Social-Media-Kanälen, die ich am liebsten gedruckt gesichert sehen möchte. Bereit und wohlgeordnet für die Aufnahme in ein konventionelles und professionelles Archiv.

Vielleicht sagen jetzt manche: „Okayokay, das kann ich immer noch erledigen, keine Panik.“ Dem möchte ich zwei Tatsachen entgegenhalten:

Der Datenbestand wächst täglich rapide, bei den aktiven Social-Media-Nutzer*innen zusehends. Die diversifizierende oder die analoge Sicherung wird mit dem Anwachsen des Datenbestandes immer schwieriger und aufwändiger. Besser man beginnt damit wann? Meines Wissens unverzüglich.

Niemand weiss, was noch vor ihr oder ihm persönlich liegt. Es ist ein Zeichen von Demut, auch hier Vorsorge zu treffen.

Als ich vor ein paar Stunden Facebook geöffnet habe, da waren sie wieder, die Geburtstagserinnerungen. Eine hat mich besonders berührt und diesen Text veranlasst.

André Gottwald wäre heute 56 Jahre geworden.

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Beitragsbild: Hans Baldung Grien: Der Tod uns das Mädchen (1517, Kunstmuseum Basel), Wikimedia Commons
Abb. 2: Städtischer Friedhof Delitzsch; Blick auf die Friedhofskapelle (seit 1878) (c) der Autor 2017

 


 

[1] Jürgen Hermes hat mich daran erinnert, dass Twitter die Daten natürlich nicht im Excel-Format ausliefert, sondern dass der User entscheidet, ob er die Daten, die im TSV-Format downgeloadet werden, z.B. via Excel aufrufen will. Das .tsv-Format (UTF-8 codiert) bietet eine hohe Flexibilität und wird hochwahrscheinlich auch noch in 25 Jahren verwendbar sein.

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