Nachgedacht (20.11.18): Es gibt doch eine „Stunde Null“, und zwar insofern man individuell auf Null gesetzt, nullifiziert werden kann, durch die sogenannten Umstände. Das würde ich übrigens als das Migrantische begreifen, als den grossen Unterschied zum Autochthonen.

Wer kennt sie nicht, diese Bookchallenges? So richtig verstanden, worum es dabei geht, habe ich noch nicht. Vielleicht, dass es ein kollektives Spiel der prokrastinierenden Schreibtischarbeiter*innen ist, das fände ich ganz schön, müssig im besten Sinne. Immer gemischt mit etwas Selbstvorstellung. Einige haben diesen letzteren Aspekt des Sich-Selbst-Vorstellens als eine Reflexion des eigenen Daseins, an der man zugleich mit denen teilnimmt, die mitlesen und -schauen mögen, zu einer kleinen Kunstform entwickelt – haben diesen Aspekt weg vom Verdrucksten zum offenen und eigentlichen Anliegen gemacht. Mit solcherlei grossartigen Ansätzen will das hier gar nicht konkurrieren. Sie sind allerdings die Voraussetzung dieses meines Postings, weil sie gezeigt haben, dass man so eine Bookchallenge zu einem lehrreichen Erzählanlass für andere und sich zu machen vermag.

Also habe ich die Nominierung des hoch geschätzten Stefan Heßbrüggen im Gegensatz zu früheren, ebenfalls sehr freundlichen Einladungen angenommen. Merci, Stefan.
Die Regeln dieses Spiels besagen, dass man jemand anderen seinerseits „nominieren“ müsse. Ich habe da einen ebenso netten wie interessanten, allerdings sehr zurückhaltenden Twitterer benannt, der ein etwas altertümliches Profil pflegt, durch seine Buchcover hat er sich aber etwas bekannter gemacht. Sonst weiss man wenig.

Auch habe ich mir die Regeln etwas zurechtgebogen, habe Kommentare auf Nachfrage nicht ausgeschlossen, das Cover mit jeweils einer Textstelle kombiniert und nur eine weitere Person nominiert. Bin ungern ein Teil von (Schneeball)-Systemen (währenddessen schneit es doch jetzt tatsächlich erstmals in diesem Herbst vor meinem Muttenzer Dachfenster, dem kommt aber sicher keine tiefere Bedeutung zu, meine ich jedenfalls).

Ich habe mir Gedanken um die Auswahl der sieben Bücher gemacht. … Macht dann jede*r, klar. Satz kann also wieder weg. Man muss ja hier nicht einmal radieren oder so. Durchstreichen geht. Denn es sollte am besten so halb leserlich als Ruine stehenbleiben dieser triviale Satz

(Aber eigentlich auch schade, dass man hier und generell in den Standardformaten des digitalen Schreibens beim Ändern in der Regel keine offenen Spuren hinterlässt, Ändern auch dauerhaft möglich bleibt und so das Wesentliche, Palimpsesthafte unseres Denkens zunächst äusserlich verschwindet, der Unwiederbringliche materielle Moment des Einritzens also, dann vielleicht auch in Vergessenheit geraten mag. Die Textlandschaft wird flacher, jetztiger. Der Bildschirm negiert das textliche Altern. Selbst wenn in wissenschaftlichen digitalen Editionen auch die Textgestalt der jeweils zugrunde gelegten Texterscheinungsform mit abgebildet wird, so bleibt dies doch wesentlich ein Bild und kein Körper, ausserdem nicht mehr alltäglich. Anders, also gestalt-dynamischer sind, wenn wir uns Mainstreamformate anschauen, Wikipedia und Twitter programmiert. Beide machen Ursprungstextgestalten dauerhaft erkennbar, Wikipedia sogar dynamisch bis in die Mikrostruktur, aber beide Textformate sind schon ursprünglich digital konzipiert. Machen gar keinen Verlust fühlbar, weil sie nie anders als in ihrem gegenwärtigen Sosein gedacht worden sind. Mir fehlen die Handschriften der Lieben meiner ersten reichlich 30 Jahre, diese berückend-individuellen Briefe (jetzt sehen wir das, wenn wir die Truhen öffnen!), die Schreibmaschinenkonvolute mit Bleistiftkorrekturzeichenschwärmen, die Zeitung, die mein Vater von der Arbeit mitbrachte und in der er mit rotem Filzstift wichtige Passagen herausgestrichen hatte, wenn gerade über ein wichtiges Ereignis berichtet worden war. Die kleinen zusammengefalteten Zettelchen, die man sich noch im Studium zusteckte, wenn man etwas Persönliches mitzuteilen hatte.

Es schneit mittlerweile dicke Flocken.

Jetzt werden bestimmt einige Digitalexpert*innen sagen, dass der letzte Absatz a) einem verachtenswerten Kulturpessimismus entsprungen sei und b) das Digitale doch gar keine Verluste zeitige, sondern alles viel besser mache. Oder vielleicht denke ich das selber gerade, ja, zweifellos tue ich das, denn niemand sonst ist hier.

Eigentlich drücke ich mich auch nur um etwas herum. Die Auswahl dieser Bücher. Das Kriterium. Ja. Also. „Stunde Null“ habe ich oben geschrieben, „Lebensretter“ gar.
Ge- und zerlesen habe ich diese Bücher zwischen 1990 und 1993. Das war eine Zeit (die dann noch etwas länger dauerte), in der ich keine Zeitung las, kein Fernsehen schaute, auch keine Radio besass. In der umliegenden Provinz soffen, randalierten, verstumpften viele Jahrgangskameraden, sofern sie nicht gleich rübergemacht waren und dort in den gierigen Fabriken des Westens schufteten. Ich kannte sie nicht mehr. Meine Welt waren die Bibliotheken, mein Zuhause war die Deutsche Bücherei, denn im besetzten Haus war es nicht sehr bequem. Oft waren aber auch die abgelegenen oder Spezial-Bibliotheken meine Heimstatt (die alte Leipziger Unibibliothek z.B. stand bis Mitte der 90er noch in ihrem zerbombten Zustand, im Souterrain eines Flügels war ein Lesesaal zu den ausgelagerten Altbeständen). Meine Welt waren die romantischen Abenteuer, immer neu, immer, wirklich jedesmal mit tödlicher Leidenschaft. Was für bezaubernde Menschen, Frauen. Es war die Leipziger Musik: Das Masur’sche Gewandhaus, die Thomaskirche von Rotzsch und Unger, die Zimmermann’sche Oper. Und es waren die nahen Thüringer Wanderungen und die sehr langen und weiten Reisen. Ich lebte wie in einem Niemandsland, abgekapselt. Es gab kein davor, und es gab auch kein Ziel, keine Vorstellung von einer Zukunft. Es gab unendlich viel Gegenwart. Gedehntes, ausgewalztes Jetzt. Ich war ein erwachsenes altkluges Kleinkind, besser gesagt, ich war es wieder geworden. Als ob ich wieder wie mit 12 oder 7 in dieses Welt glotzte. Die Jahre dazwischen waren versunken über Nacht.
Psychologen*innen und Historiker*innen wissen: Es gibt keine Stunde Null. Gesellschaftlich schon gar nicht.

Ich war aber de facto in einer gefangen oder: aufgehoben. Wie in einem inne beschlagenen Schrebergartengemüsezelt. Einer Gebärmutter. Alles, was von aussen kam, waren störend: Alle nicht-philosophischen Lehrveranstaltungen seit 1992/93, wie habe ich mich dort immer gelangweilt. Die eifrigen Rededucators (m), die sofort erkennbar nichts als weinsaufende Missionare im Ruderboot waren. Herrlich dagegen das Versinken in den indischen Sprachen, die kristalline Klarheit des Sanskrit, die bilderbuchhafte Hybridität des Hindi, dessen von aussen herrlich als Zwillingsbruder verborgener Zwillingsbruder: das Urdu. Heilsam das Versinken in alten Texten, das vollkommene Neu-Entziffern vom Kultur, das kleinkindhafte Neulernen von Sprechen, Lesen und Verstehen. Und nebenbei noch leidlich das Russische pflegen und das Lateinische ausbauen.
Und dann diesen Habitus des Kindes auf alles übertragen, Beziehungen, Räume, Geschmäcker. Die Philosophie der Moderne interessierte mich allerdings lange überhaupt nicht, nach Hegel war Schluss. Kant und Aristoteles waren mir sehr wichtig und gaben mir etwas Disziplin. Sie waren Grundnahrung. Meine inneren Freunde wurden aber Buddha und sein Kontext, Spinoza, Hegel und Montaigne (in der Reihenfolge meiner Zuneigung). Das hat mich gerettet in der Tristesse dieser Jahre. Und ich muss sagen: Diese vier sind für mich bis heute prägend.
Natürlich denken sie unterschiedlich, und doch fühle ich mich allen nah.

Irgendwann war ich dann in der Lage, eine verantwortliche Beziehung einzugehen und mich um ein bürgerliches Fortkommen in diesem Westen zu kümmern. Die selbstverhängte Schonzeit konnte ich beenden. Im heutigen Universitätsbetrieb wären solche Jahre undenkbar. So kam also meine Buchauswahl zustande, alles hat seine Geschichte. Viele „ostdeutsche“ Geschichten beginnen 1990.

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