Es gibt ein Glück, das hat zwei kräftige Beine, etwas Zeit, festen Untergrund, Schweiss im Gesicht, sich langsam verändernde Ausblicke und ein Ziel der Mühsal. Diese Glück ist das Etappenwandern, besonders in seiner Form als Pilgerweg. Die Erfahrungen, die man dabei machen kann, unterscheiden sich gänzlich von denen eines von diversen Verpflichtungen gehetzten Alltags moderner Verwaltungsmenschen, deren Wechselerfahrungen massgeblich von Tagesordnungen und Browsertabs geprägt werden und dessen Bewegungen in Gehäusen von mobiler Infrastruktur eingehegt wird, immer vorwärtsgetragen von einem Treibstoff, der nicht wir selber sind.
Ein Fuss vor den anderen setzen, immer wieder, Wasser trinken, sich ständig orientieren, das Wetter im Gesicht spüren, die Distanz in der Füssen, den Hunger als Mangel, die Ungewissheit schon über das Terrain eine Sichtweite voraus, jede Faser, jeden Knochen seines Körpers von Tag zu Tag wieder neu begrüssen. Tief beglückende Erfahrung jedesmal, und doch nur mühsam einmal im Jahr aufwendig aus dem Betrieb herausgestohlen.
Viel konnte ich sehen, was ich mir als Historiker zu sehen vorgenommen hatte. Gerne möchte ich über meinen Weg von Niederhausen (Nahe) nach Eibingen (Rhein) ausgewählt berichten. Vielleicht möchte jemand auch einmal diesen Weg gehen, Karten mit Entfernungsangaben sind deshalb eingefügt. Die Formulierungen sind oftmals die vor Ort spontan ins digitale FB-Tagebuch getippten; ich korrigiere stillschweigend Fehler und beziehe die Diskussionen mit meinen freundlichen FB-Freunden da ein, wo es sinnvoll erscheint.
Tag 1, Von Niederhausen nach Braunweiler


Ich kannte es noch nicht, das Naheland; das Flüsschen selber, die Nahe, hatte ich bisher nur in seiner Mündung in der Rhein in Bingen gesehen. 125 Kilometer schlängelt sich das Gewässer durch die historische Landschaft der Rheinpfalz, immer wieder tief eingeschnitten in ein oft schmaleres Tal, dann wieder – im Takt des Wechsels von rötlichem Vulkangestein und weicheren Sedimenten – weiter ausholend und so eine Wellenbewegung vollziehend
wie ein gemächlich flatterndes Band. Wenn wir ihm in Richtung Ursprung folgen, betreten wir eine Gegend wie auf einer Zeitreise. Menschen haben hier seit Jahrtausenden gesiedelt, die Gegend ist stellenweise sehr fruchtbar und besonders warm. Und sie ist regelmässig voller Stille, noch weitgehend verschont vom romantizistischen Massentourismus der Mosel. Der Flusslauf ist auch nicht durchgehend angestaut wie sein 60 Kilometer nördlich fliessender Bruder, er schlängelt sich oft frei durchs Tal, üppig bewachsen zu beiden Seiten.
Schon zur ersten Begegnung fand ich mich einem Biber gegenüber, der in aller Seelenruhe die letzten Strahlen der Abendsonne aufnahm und sich sonst wenig stören liess.

Ausgangspunkt Niederhausen: Ganz anders ist es hier als in den meisten der camperstellplatzgesäumten Moseldörfer, die ich zuvor auf drei anderen ausgedehnten Wanderungen kennengelernt hatte: vom Tourismus noch nicht zu Tode geküsst. Verschlafen, muss man es nennen, in sich gekehrt.
Mit einer Gastwirtschaft am Ufer des schmalen Nahestausees, die so hätte dort gewiss auch schon vor 150 Jahren geführt werden können.
In der Dorfmitte ein Gedenkstein; ich gehe routiniert hin, um das „Krieger“-Denkmal zu inspizieren und meiner Sammlung hinzuzufügen. Überraschung: kein Kriegerdenkmal, ein Stein mit der Präambel des Grundgesetzes. Huch, wo bin ich hier gelandet?
Der Weg führt nach fünf idyllischen Kilometern, vorbei an uralten Gütern auf milden Hängen und flussnahen Hügeln auf einen zugewucherten gigantischer Steinhaufen, auf dem ich dann eine Weile sass und den Zeitläuften nachsann.
Böckelheim

Es handelt sich um eine der unzähligen Burgen, die unter Louis XIV in den 1680er Jahren systematisch und bis auf die Grundmauern zerstört worden sind. Neben den Menschen, denen dabei furchtbare Gewalt angetan worden ist: auch dies Opfer der blödsinnigen Idee „natürlicher“ Grenzen.
[Gustav Seibt wies auf FB zu Recht darauf hin, dass das Konzept „natürlicher Grenzen“ erst ein Kind der französischen Revolution ist. Man kann das sehr schön zusammengefasst bereits bei Otto Ladendorf (1906) nachlesen. Die sog. Reunionspolitik unter L XIV und deren Austragung als Reunionskriege 1667-97, zu denen auch der Pfälzische Erbfolgekrieg 1688-97 zählt, hatten strategisch jedoch das gleiche Ziel: den Rhein.]
Aber zurück zum Steinhaufen. Es handelt sich um die Reste der Burg Böckelheim, ein zentraler Ort abendländischer Geschichte, denn hier fand der „Investiturstreit“ ein vorläufiges, symbolisches Ende. Eidbrüchig liess Heinrich V. hier am Jahresende 1105 sein Vater gefangensetzen. Er hatte dafür selbstverständlich seine Gründe, lässt sich zuletzt bei Stefan Weinfurter nachlesen. Es blieb aber ein unerhörter Eidbruch eines Sohnes, der sich mit den Päpsten verbündet hatte, gegenüber seinem Vater. Der Bewacher Bischof Gebhard von Speyer setzte dem vielgeprüften Heinrich, dem königlichen Vater, derart zu, dass dieser eben dort, wo ich vor ein paar Tagen sass, am Ende des Jahres 1105, auf seine Macht, sein Regnum verzichtete.
Über die Folgen dieser Ereignisse diskutieren wir seit Jahrhunderten.
Dass ich bis 1990 nicht nach Westeuropa reisen konnte, vermisste ich auch deshalb, erinnerte ich mich in diesem Moment: die Ereignisorte des Früh- und Hochmittelalters nicht in Augenschein nehmen zu können.

Hier verliess mein Weg die Nahe und bog nach Norden. Ein letzter Blick zurück zeigt das Geschützte, fast archetypisch Geborgene der schmalen Flusslandschaft oberhalb der Burg Böckelheim, der Wind weht steif, nicht Mediterranes hat die Umgebung mehr.
Die liebliche Weinbaulandschaft, die allerdings abseits der Nahe auch immer wieder von monströsen Aphalt-Beton-Bauten durchsetzt wird, setzt sich noch eine Weile in geschützten Seitentälern fort.
In der Vormoderne gingen die Herrschaftsrechte in dieser ertragreichen Gegend bunt durcheinander. Wer herrschte markierte geflissentlich seinen pfälzischen Besitzstand.
Hier schön zu sehen: Der Mainzer Erzbischof sorgte für Herrschaftsrepräsentation in Waldbröckelheim. Dieser Renaissance-Erker stammt von einer kurmainzischen Faktorei (1575).
Sponheim
Welches war die reichhaltigste Bibliothek „Deutschlands“ um 1500? Ich hätte auf St Gallen, Reichenau etc getippt. Es soll allerdings diejenige dieses kleinen Klosters Sponheim gewesen sein. Als der No-Name-Zeller, der sich später klingende latinisierte Namen gab, 1483 sein Amt als Cheffe antrat, gab es 50 Bücher, daraus machte er unter Einsatz des Klostervermögens 2000; und das Kloster wurde ein Anziehungspunkt für Leser von weither. Ein Gravitationspunkt des geistigen Teutschlands.
1506 wechselte er nach Würzburg, ein Aufstieg für Johannes gewiss.
Gib Hoch- und Sonderbegabten Vertrauen, Geduld, Ressourcen und Freiheit. Sie spinnen aus Stroh Gold.
Thread 1:
Frage von Gustav Seibt: War nicht damals schon in Heidelberg die größte Bibliothek, die Palatina? War Sponheim womöglich „nur“ die größte Klosterbibliothek? St. Gallen und Reichenau waren damals ja schon im Verfall, siehe Borst, Mönche am Bodensee.
MD: Die Palatina scheint erst kurz danach unter Ottheinrich erblüht zu sein. Kloster Sponheim wurde 1556 reformatorisch aufgehoben und kam an Kurpfalz. Sehr wahrscheinlich, dass die dann, 51 Jahre nach Weggang Zellers, noch existierenden Buchbestände in die Palatina gingen, so wie die von Lorsch etc.
Stefan Hessbrüggen: Es scheint kompliziert zu sein. (Weblink)
MD: Jedenfalls, so scheint mir, eine bloss 20-jährige, nur an Zellers Wirken gebundene Blüte 1483-1505, kurz bevor die Palatina in der Kurpfalz und darüber hinaus zentral wichtig werden konnte.
Thread 2:
Jürgen Hermes: Würzburg war mehr eine Flucht denn ein Aufstieg – „Über all die Vorwürfe und Anfeindungen, denen sich Trithemius jetzt – auch von den Mönchen seines eigenen Klosters – ausgesetzt sieht, gibt er den Vorsitz von Sponheim, das er einst zur Blüte geführt hat, auf, um Abt im Würzburger Schottenkloster zu werden (1506). Die von ihm zusammengetragene und weithin angesehene Bibliothek kann er trotz mehrfacher Bemühungen nicht mit überführen.“
MD: Richtig. Aber die Würzburger Abtei war bedeutend grösser, in Sponheim hatte es nur 20 Brüder. War es ein Weggelobtwerden, ein Fluchtaufstieg? – vielleicht. Sein Lebenswerk musste er jedenfalls hinter sich lassen.
Es stellte sich heraus, dass mein Freund Jürgen in seiner Dissertation zu Johannes Zeller gearbeitet hatte. Schöner Zufall! Siehe: https://kups.ub.uni-koeln.de/4561/?fbclid=IwAR0LQg2n2LZ5l2vy7134uywT1LRpZwbOyG2NZ7Wmvir9l3dGpFtERd9ORmY
Tag 2, Von Braunweiler nach Stromberg

Lange Strecke in der zweiten Hälfte durch den zauberhaften, biologisch abwechslungsreichen grossen Soonwald, mit steilem Anstieg ab Spabrücken, dessen Kammlagen durch den Wanderweg gezeichnet werden. Zuvor freundlich aufgelockerte Wald-Feld-Weiden-Landschaft.
Für den Historiker heute etwas weniger zum Staunen. Eine Burgruine, die nicht wegen Louis IV Politik verbrannter Vesten, sondern aus ganz prosaischen Gründen nur noch Ruine ist. Den Herren wurde sie im 18. Jahrhundert zu unbequem, für das Schlösschen im Tal nutzte man Buchmaterial von der Burg. Im unromantischen Provinz-19. Jahrhundert kapitalisierte man den Rest der Steine und des Bauholzes: fertig war die Ruine Dalburg.
Bezaubernd dann die Franziskanergründung der Wallfahrtskirche in Spabrücken. Nette Begegnung dort.
Abends Familienlazarett. Die ersten beiden Etappen fordern ihren Tribut.
Tag 3, Von Stromberg nach Bingen
Der Weg führt am vorletzten Tag zum Rhein. Dem Screenshot von meiner App oben sieht man es an: Ich hatte mich verlaufen. Ein Grund dafür, meine Wanderkarte für unterwegs war etwas veraltet, ein anderer Grund: diesmal war ich allein unterwegs und genoss es, mich rücksichtslos treiben lassen zu können. Ich sehe auf solchen Wanderungen ohnehin Orte, den ich andernfalls niemals begegnet wäre. Dieses Sichtreibenlassen verstärkt den Effekt: überraschend irgendwo auftauchen, wo sonst niemals ein Fremder auftaucht, dann gleich wieder weg sein. So sind früher wahrscheinlich die xenophobischen Sagen entstanden. Und für den Wanderer: das Gefühl, genau hier am jeweiligen Ort nur einmal im Leben zu sein, macht alles kostbar, schärft alle Sinne.
Heiss war es an diesem Tag; ich genoss alles, was mir mein Körper an Signal sendete. Auch das Gefühl der, nun nach Kilometer 42, langsam sich einstellenden Schmerzen in Füssen und Knien, der salzige Schweiss in den Augen, die der Sonne völlig entwöhnte Haut unter den sengenden Mittags- und Nachmittagsstrahlen über freie Feldwege (im ersten Teil der Wanderung), all das … ich genoss es, die körperlichen Schmerzen.
Ohne den Umweg hätte ich auch dieses hier nicht gefunden. Die perfekte Idylle.
St Pankratius (1375 erstmals erwähnt) duckt sich in die Daunen der fruchtbaren Felder. Hier, auf dem kleinen Dorffriedhof, unter dessen Familiengräbern ich jetzt im Schatten ruhe, möchte man begraben sein.
Endlich dann, quer über den Binger Wald, nochmals auf knapp 500 Meter ansteigend, zum Rhein. Im Binger Wald wurde es etwas tagestouristisch, was mich verstimmte, mir wenigstens, gerade auf schmalen Wegen Geduld abverlangte. Meinen Wanderschritt konnte ich erst jetzt messen, wo Spaziergänger teilweise meine Richtung und Weg teilten.
der Blick öffnet sich ganz plötzlich, etwas länger zuvor war allerdings schon das untergründige Dröhnen des Verkehrs im Rheintal zu vernehmen. Nicht zuletzt ganz befremdliche Laute, die sich aus etwas zusammensetzten, das wie ein Galeere klang, plus solche moderner Musik, die fast nur durch Rhythmus bestimmt wird, dazu noch eine Megaphonstimme die penetranten Anfeuerungsrufe ausstiess. Beinahe wäre ich wieder zurück in die Pfalz umgekehrt.
Dieser Ort, der sich dann am anderen Ufer plötzlich auftut, ist nicht nur Frankfurter schöngeistigen Journalist*innen ein Begriff. Auch der auf dem Höllenberg gedeihende Spätburgunder, der ursprünglich von Eberbach her kultiviert wurde, ist, man schärfe seine Sinne und erwarte keine Geschmacksvolumina wie bei einem Merlot, eine Kostprobe wert. Ein leichter würziger Tischwein. In der „alten Bauernschänke“ gibts rheinische Köstlichkeiten. (Ich war, da ich dies schrieb, etwas unterzuckert). Für mich hier nur Zwischenstation. Zum Rhein hab ichs schon geschaft (bisher km 60).
Und dies hier heruntergewirtschafte Hüsli mit Biergarten wird von niemandem um mich her eines eingehenderen Blickes gewürdigt, dabei ist es jeder Beachtung wird: Ausdruck einer zweiten, spätromantischen Welle von Schweiz/Alpen- (ich hätte fast gesagt: Reduit-)-Idyllisierung und Projektion in deutschen Landen.
Ein preussischer Geblütsspross hat es ab 1842 für sich errichten lassen.
Über diese Wellen von „deutscher“ Schweiz/Alpen-Idyllisierung könnte man viel sagen, im engeren Sinne politisch als Bewunderung des freien Konföderalismus war diese Projektion vielleicht nur ursprünglich in der Rezeption von Müllers und bei Schiller. Schon der helvetische Napoleonismus ff. gab den Zeitgenossen auch keine entsprechend Nahrung mehr.
So, weiter gehts, noch 7 km bis Bingen.
Dann, der Weg schlängelt sich am steilen Rheinhang entlang, langsam abfallend, noch zwei-drei Nebentäler nachvollziehend, steht man in Bingen, wo provinzhaft verschlafe Randviertel, die von der Innenstadt durch irrwitzige Autoinfrastruktur-Bauten abgegrenzt werden, jenseits der Nahe, die hier in den Rhein mündet, in diesen Kontenpunkt des Rheintourismus führen.
Kurz verschnaufend, bevor ich meine Familie wiedertreffe, sitze ich kurz auf einer Bank, Eine Pakistanerin singt ihren beiden Kindern im Wagen eine Urdu-Schlaflied. Ein junges deutsches Heteropärchen kommt schwatzend vorbei, es geht um ein Computerspiel, ich höre sie vorbeientschwindend noch emphatisch sagen: „… dann geht die Welt voll unter.“ Germania gegenüber wirft zur Seite Schatten, mit EU-Millionen zuletzt komplett aufgeputzt.
Tag 4, Von Bingen nach Eibingen und zurück
Ja, es war ein Pilgerweg. Vielleicht wurde er es für mich auch erst ganz zum Schluss. Die ersten Tage konnte ich mich gar nicht auf diese Idee einlassen, alles Mögliche ging mir durch den Kopf, die Gedanken wollten immer über all hin und nicht bleiben.

Parallel dazu, dass sich mein Körper bemerkbar machte, Schmerzen kamen, Erschöpfung sich fühlbar machte, gelang auch so etwas wie Geistesgegenwart. Eine neue Aufmerksamkeit. Es ist schwierig, hier nicht ausgestanzt zu formulieren, aber es war so: ich rückte in die Landschaft ein, die ich durchquerte, wurde zunehmend Teil dessen, was ich fortschreitend mühsam mir zur Erfahrung brachte. Die Schmerzen erfuhr ich als wohltätig, sie halfen mir, mit dem Kopf beim Körper zu zu bleiben. So funktioniert das wohl mit der Pilgerei und der Selbstzüchtigung, sie verschaffen ein Bewusstsein von Einheit des Körpers mit den sonst haltlos galoppierenden Gedanken.
Ja, und dann war sie da, die Begegnung mit der Hildegard. Ich hatte noch nie eine Erfahrung wie am Ende dieses Wegs von gut 80 Kilometern, vor ihren Reliquien stehend, in der ehemaligen Klosterkirche in Eibingen.
Der Weg dorthin nochmals ebenso berückend schön wie beschwerlich; die vielen Touristen aus aller Welt in Rüdesheim, von denen alle zur Germania und keiner zu Hildegard wollte, kontrastierten erheblich.
Alles andere bleibt mein Geheimnis.
So fahrt im Morgenschimmer!
Seis Donau oder Rhein,
Ein rechter Strom bricht immer
Ins ewge Meer hinein.
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