Jedenfalls einen Adalbert Stifter als Betrachter, obwohl kein Kunstwissenschaftler, wenn aber doch besessener Maler, hätte Joseph Fischer nicht hinter die sprichwörtliche Fichte geführt, respektive die Pappel! Auf keinen Fall, das kann man ausschliessen!

Am 4. Juli des Jahrs habe ich einen schönen Tag mit meiner Tochter Minou auf dem Residenzschloss derer zu Esterházy verbracht und auch im anschliessenden Park. Zum Glück mochte sie es dort ebenso wie ich, hat sie gesagt, ich glaube ihr das schon. Ein paar Fotos, wen es interessieren sollte, auf dem Instagramkonto.

Jedenfalls stiess ich in der aktuellen Haydn-Ausstellung im Schloss (die offenbar an Kinder und ahnungslose Touristen adressiert ist, ich hielt es ästhetisch kaum aus, floh geradezu! [Ref. extern]) unerwartet auf ein Gemälde, das ich in diversen mittelmässigen Reproduktionen schon vielfach wahrgenommen hatte und das auf mich einen ungewissen Reiz ausübt. Vis-à-vis und sehr nah zum Original hat sich diese Ahnung zu grösserer Gewissheit verfestigt.

Selbstportrait Joseph Fischers in seinem Atelier 1809

Es stammt von Joseph (oder Josef) Fischer (1769-1822), es ist ein Alterswerk: 1818. Seit altersher in Privatbesitz der Esterházys, jetzt deren Privatstiftung. Fischer war Kurator der Sammlungen Fürst Nikolaus II. Die Wikipedia weiss noch nichts über ihn, das scheint mir eine bedauernswerte Lücke zu sein.

Nun, dieses Stadtlandschaftsbild hat einen nur scheinbaren Fluchtpunkt, nämlich einen wahrnehmungspsychologischen. Die „Spinnerin am Kreuz“ zieht den Betrachtenden in seinen Bann, und das vermögen dann auch die Gestalten, die sich auf den Wegen um die Spinnerin ergehen, Verschiedenes betreiben und uns eine immersive Einladung in die Darstellung der Vergangenheit bieten. Sie binden uns in ihre Welt ein, ein ewiges Faszinosum solcher Genremalerei. Es ist noch dazu ein undefinierbarer Lichtstrahl (die tiefstehende Abendsonne bricht durch abziehende schwere Wolken), wie das Spotlight einer Bühne, der unseren Blick fesselt, der sich auf die Stufen des Denkmals richtet, auf denen zwei Reisende ruhen. Der vordere blickt aufmerksam in Richtung des linken Bildrandes, wir folgen spontan seinem Blick, sehen aber nichts Außergewöhnliches.

Die Augen der professionellen Kunstwissenschaft werden sich nicht täuschen lassen, die Augen des spektakelsüchtigen Laien (gar Gamers) oder der quellenfixierten Historienforschung werden ziemlich gewiss unterliegen. Die „Spinnerin am Kreuz“ ein berühmtes Denkmal [Ref. extern], eine vielfach abgebildete gotische Wegmarkierung aus spätestens dem frühen 15. Jahrhundert (bis heute zu besichtigen oder zu bestaunen, je nachdem).

Das Geheimnis von Fischers Bild, seine irritierende Anmutung, besteht allerdings darin, dass der wahre perspektivische Fluchtpunkt nicht von all der erzählerischen Szenenerie und dem dominant aufragenden meist dunklen Körper des Denkmals, sondern vielmehr von der Spitze des im Hintergund platzierten Stephansdomes gebildet wird. Der Betrachter wird erst hierhin und dahin geführt, ihm wird dies und das nahegelegt, bis er selbst bei genügender Geduld und genügendem Eigensinn zum Wesentlichen vorzustossen vermag.

Wenn man das einmal erkannt hat, wird deutlich, dass das Bild sonst nur mässig detailreich ist, im Vergleich zu anderen Landschaftsbildern der Epoche, vieles verschwimmt im Ungefähren der wettergesättigten dicken Luft, die noch die Sicht des imaginären historischen Betrachters tränkt.

Fischer führt die Gravitation der noch immer gefahrvollen Reise vor Augen, das ist das Sujet, die sich in der selbstbewusst aufragenden Bauform materialisierende Sehnsucht eines Ankommens. Fischer selbst hat diesen Weg mit dieser Perspektive in seinem Leben zuvor sehr oft genommen: von seinem Fürsten in Eisenstadt hin zur kaiserlichen Metropole, 50 km über die Leitha, eine Tagesreise mit der schnellen Post, zwei Tagesreisen auf Schuster Rappen.

Eigenes Foto 2024

Der Stephansdom hat eine wahrhaft überragende Bedeutung für die Bevölkerung in seinem Schatten, quer durch die Jahrhunderte, auch Fremde erkannten das stets sofort: wie der schlaue Jan Sobieski 1683 [Ref. extern], der als erster der siegreichen Entsatzfeldherren schnurstracks in die Kathedrale ritt.

„Ziegenmädchen“ aus Stifters Band von 1844

Wien als sicherer Ort an der Linie von Alpenausläufern, Donaustrom und der weiten Ebene des Karpatenbeckens wurde für alle von weither symbolisch durch diese Kirche. Der Blick von der Spinnerin oder bachab von den Wiener Bergen ist deshalb auch Sujet vieler Schriftsteller gewesen.

Besonders deutlich findet sich diese symbolisch aufgeladene Orientierung endlicher Sicherheit, dieser mentale Messpunkt von Rast oder Heimkehr beim frühen Adalbert Stifter (der Fischers Bild kaum gekannt haben kann):

„Wer immer über die Spinnerin am Kreuz (ein schöner Getreidehügel, über den die Triester Strasse führt) oder über einen der Westberge Wiens gegen die Stadt kommt, der wird die alte, ernste, grosse Stephanskirche mitten in dem Häusermeere wie einen Schwerpunkt ruhen sehen und sich dieser Symmetrie erfreuen …“

Adalbert Stifter, Aus den Katakomben (im Band „Wien und die Wiener“ 1844)

Stifter (ab 1860) aus dem Nachlass ediert von Gustav Wilhelm 1935

„Wenn man Wien von einer Anhöhe aus betrachtet, deren mehrere in ganz geeigneter Entfernung liegen, so zeigt sich die Stephanskirche gewissermassen als Schwerpunkt, um welchen sich die Scheibe der Stadt lagert. Und an der Kirche ist wieder der Thurm der Zeiger ihrer Majestät; denn denkt man ihn weg, so könnte die Kirche auch irgend ein ansehnliches Stadthaus oder ein hervorragendes Schloss sein. Er gibt ihr ihre Bedeutung. Wenn man in großen Entfernungen ist, in denen man weder die Stadt noch die Kirche erbliken kann, so ragt doch er wie ein blauer Schatten oder wie eine matte Linie oder wie eine dämmerige Pappel empor.“

Stifter spricht mir nicht selten aus dem Herzen, gerade in seinen beiläufigen Metaphern. Pappeln, diese billigen und schnellen Aufgrünungen der Nachkriegszeit haben meine Kindheit und Jugend bestimmt, immer freue ich mich kindlich, eine Pappel zu sehen, in ihrem Bannkreis zu stehen. Nach 1990 wurden die Nachkriegspappeln in meiner ersten Heimat systematisch geschlagen, es wäre an der Zeit, sagte die Zuständigkeit. Stattdessen dann wertvollere Gehölze in Reihe und Glied, die dem in der Tiefebene besonders spürbaren Klimawandel nunmehr auch nicht mehr gewachsen sind. Der Wiener Donaukanal versorgt mich reichlich mit meiner persönlichen Pappel-Erinnerungswärme, er ist eine Anschlussstelle für mich hier Fremden (der Stifter übrigens war und blieb). Pappeln gehörten zu Wien und seinen Alleen ost- und südostwärts seit langer Zeit. Die Pappel konnte für Stifter zum Sinnbild dessen werden, was das Bild Wiens bestimmt hat: der Stephansdom.

Jedenfalls einen Adalbert Stifter als Betrachter, obwohl kein Kunstwissenschaftler, wenn aber doch „besessenen Maler“ [Ref. extern], hätte Joseph Fischer nicht an der Nase herumführen können.

Von Braveheart – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0

Die Spinnerin befindet sich nun seit vielen Jahrzehnten am Rande einer vielbefahrenen Strasse und Strassenkreuzung, gerahmt von Gemeindewohnungsbauten. Seit Generationen öffnet sich kein Blick mehr wie für Fischer oder Stifter und die vielleicht Hundertausenden über die Jahrhunderte, die täglich einströmten oder sich beim Abschied noch einmal umwandten.

Der Stephansdom ist nur noch ein minorer Orientierungpunkt, wenn man einmal von erhobener Warte zu schauen vermag, sei es von einer der oberen Stationen des Universitätskrankenhauses oder vom Kahlenberg. An der nahen Peripherie stehen die dominanten Hochhäuser und wachsen jährlich nach. Auf die kann man sich natürlich auch hinaufliften lassen, oben warten sehr oft Cocktails und Häppchen an einer Bar.

Das Auge muss teils lange suchen, was es einst magisch anzog, worauf von so vielen Menschen über Jahrhunderte so viel projiziert worden ist. Wohin sind diese Gedanken, Sorgen, Wünsche, Pläne und Ängste?

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