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ein „BLAUES WUNDER“ erleben. Ich weiss nicht, wie ich gerade dieser Tage darauf komme.‪ Doch, schon.

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Screenshot aus den originalen Aufnahmen der Radomski/Schefke: https://www.youtube.com/watch?v=1-cG_vhFciU

Man sieht die kombinierte Fussgänger: und Radfahrer:innen-Brücke, von der so viele der ikonischen Bilder der Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 aufgenommen wurden, und die sehr prominent auch auf denjenigen heimlich gedrehten Filmaufnahmen präsent war, die von der benachbarten Reformierten Kirche an diesem Abend heimlich gedreht wurden (i) und die dann enorm wirkungsmächtig am selben Abend über die Tagesthemen liefen (siehe Aram Radomski / Siegbert Schefke, Youtube).

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By Bundesarchiv, Bild 183-U0516-0013 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5370677

Die SED-Führung war in den späten 1980er Jahren informationell schon sehr lange nicht mehr der Herr im Hause, beherrschte nicht mehr die Köpfe. Tagsüber fristete man als Mensch dieses Landes sein Dasein, durchaus manchmal auf angenehme, oftmals berührende Weise in dieser „DaDaeR“ (i), manchmal auch, zeitweise häufig, war es bei Tageslicht zum Davonmachen. Abends tauchte man dagegen ein in die andere Welt, von Schwarzwaldklinik bis Valensina, die von Jahr zu Jahr immer andersartiger geworden war, bis hin zur Unkenntlichwerdung des Gleichen, bis zur Mythifizierung der Differenz. Ein informatorisches Monopol, das für den Durchherrschungsanspruch der SED-Führung essentiell war, gelang es mit Einschränkungen nur noch in den Kasernen der „bewaffneten Organe“ durchzusetzen (und in den Funklöchern vielleicht), zumal die in den Kasernen Kasernierten, sofern sie einfache Soldaten waren, nur ausgesprochen selten „Heimaturlaub“ bekamen und der wöchentliche Ausgang von wenigen Stunden zeitlich nur genügte, um die nächste Dorfkneipe aufzusuchen. Aber, anderes Thema. Die Bilder aus Leipzig, abenteuerlich zustande gekommen, sahen innert kurzer Zeit nun aber die ganze „Republik“. Das Blaue Wunder bekam via Westfernsehen eine ganze neue Bedeutungsdimension. Jedes Überqueren war seitdem für die früher oder später Gesehenhabenden verbunden mit der Assoziation dieses 9. Oktober.

Der Volksmund sagte: „Das blaue Wunder“, die ewige Lokalkonkurrenz gen Loschwitz war da mit inbegriffen; das „Wunder“, die SED-eigene Lokalpresse griff das gerne auf, wurde 1973 errichtet. Mehrere Tage vorfristig: seine Eröffnung am 21. August, was ein Ereignis war, Tausende Zuschauer. „Weltstädisches Flair“ in einem Moment der DDR-Geschichte, den viele Ältere – Ulbricht war gestürzt worden, in Berlin liefen die Weltfestspiele etc.pp. – in vergleichsweise positiver Erinnerung haben.

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By Bundesarchiv, Bild 183-M0828-0009 / Raphael (verehel. Grubitzsch), Waltraud / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5366543

Das Blaue Wunder überspannte die riesige Kreuzung zwischen der „Blechbüchse“ am berühmten Brühl und dem Naturkundemuseum. Sechs bedeutende Strassen mündeten auf diesen damaligen Friedrich-Engels-Platz, unter anderem lief die Via Imperii darüber hinweg. Mehrere Strassenbahnlinien kreuzten dort.

Ich kenne keinen Leipziger, egal welcher politischen Ausrichtung, der dieses Bauwerk nicht geschätzt hätte. Es schied auf grosszügige Weise den Auto- und Strassenbahnverkehr von den wahrhaft Auto-Mobilen, es war breit und grosszügig angelegt, die Rampen liessen sich mit dem Fahrrad sehr gut nehmen. Ich fuhr oft mit dem Rad darüber in Richtung der theologischen Fakultät am Rosental und immer, wenn ich zu Freunden in Gohlis oder im Waldstrassenviertel wollte.

1991 wurde sie auf Geheiss der neuen Stadtregierung grau angestrichen, der Leipziger Volksmund liess sich davon allerdings nicht beirren.

Das war die Zeit, als in Leipzig die vielen (wer weiss die Zahl?) bebuschzulagten Beamten (ich erinnere mich in dieser frühen Zeit an keine Frau) aus dem noch kurzvorigen Ausland alle mittleren und höheren Verwaltungsstellen bebeitrateten und sich abends in der anfangs noch unterentwickelten Gastronomie nicht zu langweilen versuchten.

1995 kam aus der Berliner Senatsverwaltung ein junger Rheinländer nach Leipzig und wurde Baustadtrat. Ich lernte ihn auch gelegentlich persönlich kennen, was eigentlich sonst nicht wahrscheinlich war, aber durch Zufall war ich ein paar Mal Gast bei Anlässen, an denen ich als einziger, neben meiner Frau, diesen untergründig nuschelnden Akzent abzulegen versuchte. Beobachtender, etwas unsicherer Fremdling, also ich, wohlgemerkt.

Von daher meinte ich schon deutlich länger zu wissen, dass man meinte, diese Konstruktion „verstelle … den Blick auf die Gebäude ringsum und eine Kreuzung ohne Brücke schaffe eine ‚räumlich großzügigere Lösung‘.“ Man störte sich „ästhetisch“, das Bauwerk entsprach nicht dem stadtplanerischen Vorstellungen, es störte.

Ausserdem (ein nachgeschobenes Rechtfertigungsargument, dass damals aber überzeugend wirken mochte, für manche) werde „durch die Beseitigung der Stützpfeiler viel Platz gewonnen wurde, um den Autoverkehr neu zu regeln“.

69580801_2151227525175381_2613265841864572928_nMan wusste, das würde nicht einfach. 2004 war es aber so weit, die anstehende Fussball-WM mit ihren lächerlichen paar Spielchen in Leipzig lieferte willkommenen Scheinhandlungsdruck. Im Stadtrat organisierte man eine Mehrheit, zahlreiche Bürger:innen-Proteste von Menschen aller Milieus ignorierte man. Der gemeine Leipziger ergab sich dem Schicksal, es gab, weiss Gott!, wichtigere Probleme. die jede und jeder zu lösen hatte.

Ich hatte, wie man so sagte, zu diesem Zeitpunkt schon vier Jahre rübergemacht. Wie mehr als 100’000 Leipziger:innen seit 1990. Traurig war ich in der Ferne, vom Abriss zu hören. Als Historiker konnte ich die Beseitigung dieses echten 89er Denkmals nur schwer ertragen, wo man zur selben Zeit begann, sich über Einheitswippen u.ä. auszulassen.

Der städtische Baumagister machte kurz nach der Demontage weiter Karriere. Jetzt dirigiert er den symptomatischen Wahnsinn eines Berliner Infrastrukturprojektes. Demontage-Ideen sind da bisher allerdings noch nicht bekannt geworden. Jedenfalls nicht von Seiten der Direktion.

2018 erinnerte die LVZ nicht ohne Wehmut und befragte Zeitzeugen: https://m.lvz.de/Leipzig/Lokales/Blaues-Wunder-waere-in-diesen-Tagen-45-Jahre-alt-geworden

(c) Dass Enno, Facebook Grouo „Leipzig zu DDR-Zeiten“, 19.2.2021

2 Gedanken zu “Sein Blaues Wunder erleben

  1. Sehr schöner Bericht. Leipzig gehört auch zu meinen Erinnerungen. Wie schade um diese Brücke, die ich allerdings nur selten zu benutzen brauchte. Mitte der 90er blieb mir immer nur ein Satz im Ohr hängen: „Gohlis, Landsberger Straße, Endstelle, bitte alles Aussteigen“ Warum ich diesen Satz so erinnere, ist mir völlig unklar. Vermutlich nur der Kameraden auf Stube 313 willen, die am Sonntagabend meistens schon vor mir da waren und das Bier kalt gestellt hatten. In dieser Zeit (W12) lernte ich Leipzig lieben. Es ist eine wunderbare Stadt. Seit 2002 darf ich sie nun vermissen. Sieht man die Bilder im Internet, so fragt man sich schon, ob die Veränderungen Ausdruck eines guten „Baurates“ gewesen sind. Mir gehen diese Fragezeichen vor allem beim Anblick der „neuen“ Universität am Augustusplatz nicht aus dem Kopf. Soll ich da nun weinen oder versuchen, es schön zu finden? Mir gelingt beides nicht: „Interesseloses Missfallen“ oder einfach „Sprach- und Denklosigkeit“.

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